I
16.01.20
Es gibt solche Tage. Solche, die ins Licht geboren werden. Die beginnen, wenn es Zeit ist.
Die anderen, die aus der Nacht geschnitten werden, Frühchen von Tagen also, die blass und schwach starten, die im Brutkasten des Morgens liegen – die will ich nicht mehr beginnen noch beenden. Jetzt, jetzt, jetzt kriegen die Tage ein Possessivpronomen, sie heißen: meine.
Noch zwei Monate und ich fahre los. 51 Jahre mit dem Leben verhandelt. Auf Knien, im Dreck, im Sturm. Verträge abgeschlossen, kleinste gemeinsame Nenner gefunden. Je mehr Kompromisse, destokleiner die Zahl. Bin Bruch, immer der Bruch eines Ganzen gewesen. Jetzt werde ich Zähler sein. Die Sache ist gekippt. Die Südhalbkugel wird für mich bald oben sein. Das Ende der Welt, el fin del mundo ein Anfang.
Ich möchte ins Fremde tauchen. Ins Dunkel, ins Unbekannte. Es hat Gesichter, Sprachen, Farben, Gerüche. Es hat Gassen und steinige Aufstiege. Es hat womöglich spitze Zähne. Ich kenne es nicht. Es ist wie das Morgen. Ich möchte es begrüßen. Aufrichtig, freundlich, respektvoll. Möchte das Haus erkunden, das unsere Welt ist. Den Mörtel und die Einschusslöcher.
II
10.03.20
Zwei Wochen noch. Die Spielfigur rückt voran. Mein Zeigefinger reist bunten Linien nach. Das Tablet leuchtet. Ich erkläre etwas, was mit mir nichts zu tun hat. Kap Horn, die Magellan-Straße, Torres del Paine im Lieblingsrestaurant. Warmer Kerzenschein und die ganzen Möglichkeiten füllen den Raum.
Wirklich dort sein wird komplett anders sein, heftigster Wind, mit Schnee ist immer zu rechnen und die Einsamkeit und ich – wir werden Freundschaft schließen müssen.
Jedes Abschiedstreffen bringt neue Ratschläge: was ich mitzunehmen, zu bedenken, zu planen, keinesfalls zu verpassen habe. Es ist fast gar nicht mehr meine Reise. Ich weiß, ihr meint es gut; ich mag euch, alle, die ihr euch sorgt. Einiges wird mich beschützen, anderes Ballast sein – wie unterscheiden? Die Ausrüstung unter die volle Gießkanne halten bringt neue Erkenntnisse. Einiges muss neu besorgt werden. Noch ist ein bisschen Zeit. Sicher ist: ich werde nicht auf alles vorbereitet sein. Muss improvisieren. Muss eine Achillessehne mitnehmen, die vor all dem streikt. Toller Zeitpunkt, wirklich. Ich verlasse Menschen, die ich liebe und liebenswerte welche, die ich grade erst traf.
Das Haus hat noch keinen, den es wärmt, wenn ich weg bin; wir suchen noch immer, das zermürbt. Und was wird dieser Virus noch alles anstellen, welche Grenzen versperren sich – am Ende kann ich nirgendwohin. Und womit? Der perfekte neue Rucksack steht vollgepackt im Wohnzimmer neben all den Sachen, die auch noch mit wollen. Die Gedanken rennen in meinem Kopf kreuz und quer. Die Tagesaufgaben auf Arbeit erledigt grade jemand, der aussieht wie ich, aber gar nicht bei der Sache ist. Ach, sag ich. Dabei wollte ich mich doch freuen.
III
16.03.20
Was tun?
Ein winziger Virus namens Corona tanzt auf meinen großen Plänen herum. Immer mehr Leute werden krank, Leute sterben irgendwo und das irgendwo kommt näher. Die anderen hamstern die Märkte leer, es gibt Handlungsanweisungen zur Handdesinfektion, zur Einschränkung sozialer Kontakte. Aber ein Telefon kann einen doch nicht umarmen.
Immer mehr Grenzen gibt es, allerorten wird zugesperrt. Die Angst oder die Vernunft – wer regiert hier? Ich weiß es nicht mehr. Ich kann doch jetzt nicht mehr an meinen Plänen festhalten – wie verrückt ist das denn? Das Auswärtige Amt sagt „nicht notwendige Reise“. Das Virus könnte auch mich irgendwo befallen und wäre ich dann nicht lieber bei maximaler medizinischer Versorgung hier?
In einer solchen Situation mache ich immer Lose. Das ist natürlich das Unvernünftigste, was man tun kann. Aber ich hab es extra schwer gemacht: von 4 Losen war nur eins dafür, weiterhin und jetzt nach Chile zu wollen. Als ich es zog, wusste ich, dass ich es ziehen wollte.
Ich bin längst nicht mehr hier. Weiß nicht, für wen all diese Mails sind, wovon sie handeln oder was von mir zu erwarten ist. Chilenische Pampa in meinem Kopf, Teppichboden unter den zuckenden Füßen.
IV
17.03.20
Auswärtiges Amt: „Ab Mittwoch, den 18.März 2020 schließt Chile seine Luft-, See- und Landgrenzen für die Einreise von Ausländern.“die zeitfenster sind durchsichtig. auch geschlossen sehe ich noch gelobtes land dahinter. ich habe ein bedrucktes papier namens ticket – ich hätte es nicht opodo, sondern dem schicksal abkaufen sollen.
man kann im eigenen traum ertrinken, mit den armen rudernd als teilte sich dadurch das vierbuchstabige „nein“ in zwei einzelne „ja“, von denen eins reichen würde, hindurchzuschlüpfen. aber das wünschen reicht nicht. und nicht, sich genau zu überlegen, wie alles passen könnte bis alles so schön passt, dass es zu schön ist für die wirklichkeit. träume dürfen das, die können gar nicht schön genug sein. aber wenn die träume mal wirklichkeit sein wollen, wenn die seifenblasen mal nicht blöd bei jedem wind und fremdkontakt platzen wollen, dann … und das heißt dann chance. daraus kann sich ganz was neues entwickeln, ganz was großes und schönes…
Das Personalreferat ist nett. Ich darf mir das nächstes Jahr noch mal wünschen. Das wird toll.
V
29.03.20
Vielleicht
hätte der Zug noch funktioniert. Trotz Ausgangssperre. Vielleicht hätte
Isabel Arndt am 24.03.20 noch 10:10 Uhr mit diesem Ticket von Dresden
nach Frankfurt Flughafen fahren können. Statt dessen läuft sie, laufe
ich – woandershin. Laufe – google Maps sagt 14 km – vom kleinen
Elbhäuschen den Fluss aufwärts. Schlängle mich mit ihm, bis ich in den
Eichhörnchengrund abbiege und dort in der Buschwindröschenstille raste.
Die Eichhörnchen sind nicht da, aber ich. Während sich die Gedanken in
die Zugpolster gekuschelt haben, die Füße auf den dicken Rucksack
gelegt, dösen. Patagonien, endlich, jetzt ist es soweit. Heute Abend der
Flug – noch nie so lange geflogen, wie wird das – erst bis Barcelona,
dann Santiago de Chile – wie das schon klingt – und nach Punta Arenas
der Anschlussflug. Zwei Tage wird das dauern, das wird anstrengend, wir
müssen dringend schlafen, sagen die Gedanken, aber können gar nicht vor
Aufregung.
Die
wieder geöffneten Augen sehen grün. Ein linkselbisches Kerbtal, von
Mittagssonne geflutet. Der Rucksack neben mir will weiter, will
unbedingt weiter. Ach, der Rucksack ist schwer auf einmal. Die ganze
Zeit eigentlich schon, aber jetzt, wo er so erwartungsvoll neben mir
steht, so voll mit allem, was man braucht, mehrere Tage in der Steppe zu
überleben, jetzt schaffe ich kaum, ihn hochzunehmen. Ich weiß nicht,
warum das alles mit mir rumtrage. Ob ich überhaupt hier unterwegs sein
sollte. Man soll zu Hause bleiben, Kontakt nur zu einer weiteren Person
haben. Kein Flug geht mehr, kein Land hat noch offene Grenzen. Meine
Tickets mit zehnstelliger Buchungsnummer bringen mich nirgendwohin. Ich
wollte ans Ende der Welt, aber das Ende der Welt ist hierhergekommen. Es
braucht nur ein winziges Virus und das Ende alles Vorstellbaren ist
gekommen. Ein hübsches Virus übrigens; die Grafiker haben dem gelben
Körper rote Krönchen aufgesetzt. Corona also. Es sieht nicht aus, als
müsste man davor Angst haben. Ich habe nie wieder Angst haben wollen,
ich wollte weit weg ganz allein klarkommen. Und das wäre ich, irgendwie.
Aber jetzt soll ich Angst haben, jetzt soll ich vernünftig sein,
Kontakte und Reisen vermeiden, wir müssen alle die Amplitude einer Kurve
flach halten.Die Infizierten, die Toten sollen beherrschbar bleiben.
Was um Himmels Willen ist hier los??
Weiter!
Ich kann hier nicht bleiben. Nicht, wenn mein Flug in ein paar Stunden
geht, nicht, wenn ich alle Schritte der nächsten Tage schon tausendmal
gegangen bin. Gehen. Gehen ist Nicht-Bleiben. Das ist das Einzige, was
aushaltbar ist jetzt. Es gibt einen Ort, es gibt genau einen Ort, an den
ich jetzt möchte. Dort – ja, ich weiß, die Mutter seiner Kinder hat
ihm, da Kontakt zu mir – 14 Tage in Quarantäne geschickt und jetzt komm
ich, die Quarantäne mit ihm zu teilen, das ist so verboten, wie es
schräg ist. Ich darf bleiben, aber auf keinen Fall zu nah. Das ist ok,
so wie alles derzeit ok ist, was gar nicht ok ist. Die Nächte sind
frostig. Wir haben den Aprikosenbaum in zwei weiße Laken gehüllt; der
Scheinwerfer drunter leuchtet nachts Wärme, er leuchtet; eine weiße
Fahne, wir haben kapituliert. Die Tage in reinstem Frühlingsblau,
ahnungslos. Aus den Lautsprechern die neusten Zahlen, während ich die
Katze kraule, während ich Erdbeerpflanzen umsetze. Finde ein Schild mit
der Sorte „Korona“. Hämmere, hämmere mit dem alten Klüpfel, mit den
alten Beiteln auf wurmstichiges Feuerholz ein, bis es mir sagt, was es
eigentlich ist. Ich will dringend wissen, was es eigentlich ist, das
alles.
Als
er nicht sagte, bleib, ging ich. Ging ich den ganzen Weg zurück, um zu
gehen. Unterwegs nach Patagonien. Ein Freund rief an, wir könnten.
Könnten biwakieren an einem See, biwakieren ginge immer. Und zwei geht
auch. Also ging der Rucksack wieder auf die Reise. Schöne Seen haben sie
da in Patagonien. Wie die Kiesgruben bei uns. Sandige Ränder mit
Birken. Rohrkolben, denen die Zeit weggeweht ist. Trübes Wasser, kalt.
Trockenes Holz mit Birkenrinde und Feuerstahl leuchtet warm in unseren
Gesichtern. Erstaunlich windstill in Patagonien.