Wenn ich mit dem Fahrrad an der Straßenampel warte, könnte ich vor Ungeduld explodieren. Wann leuchtet endlich dieses blöde grüne Licht auf. Böse Dämonen haben sich gegen mich verschworen. Sie wollen mich nicht fahren lassen. Ans andere Ufer. Die Zeit dehnt sich ins Unendliche. Fühle mich wie ein Dampfkessel ohne Sicherheitsventil. Dann endlich, Grün leuchtet auf, Glücksgefühle flammen in mir auf. Ich trete in die Pedale und bin drüben.
Wenn ich mit dem Fahrrad an der Straßenampel warte, muss ich stehenbleiben. Stopp. Um mich herum rauscht der Verkehr. Die Autos schießen schnell an mir vorüber. Wohin fahren die Menschen alle. In den Urlaub? . Zum Finanzamt? Zur Geliebten? Eine unsichtbare Macht zwingt mich zum Anhalten. Jetzt bin ich hier. Muss in meinen Tagesablauf innehalten. Schaue an der Häuserwand hoch. Lasse meine Blicke umherschweifen. Dort an der Wand ein offenes Fenster, mit wehenden Gardinen, die nach draußen hängen. Ich will aber weiter. Weiter, schneller, schneller. Endlich das grüne Licht. Die Erlösung von meinen Leiden. Ich kann weiter.
Wenn ich mit dem Fahrrad an der Straßenampel warte, sehe ich die Leute neben mir. Wie sie in die Umgebung blicken. Manche mit Gesichtern, die das Leben gezeichnet hat. Tief gefangen in ihrem eigenen Dasein. Kein Lächeln, das den Tag erhellt und Mut macht. Befinden sie sich in einem Gefängnis. Kann das Aufleuchten von Grün das Gehen in die Freiheit für sie bedeuten. Nein, es ist nur eine normale Straßenüberquerung
Wenn ich mit dem Fahrrad an der Straßenampel warte, hoffe ich ungeduldig auf das Erscheinen des grünen Lichtes. Warum will ich, dass es aufleuchtet. Erwarte ich einen Lottogewinn? Eine Superbraut? Oder willst du einfach dein kleines beschauliches Leben weiter leben und auf die andere Straßenseite fahren.
Wenn ich mit dem Fahrrad an der Straßenampel warte, Die Autos rauschen mit ihren stur nach vorne blickenden Insassen an mir vorbei. Der Verkehr dröhnt in meinen Ohren. Bereitet mir Schmerzen. Ich will doch nur weiter. Der Regen durchnässt mich. Mich friert. Jetzt mit einem Bacardi Rum in der Hand, auf einem Stuhl sitzen. Samba Musik im Ohr. Die rötliche Sonne im Untergehen genießen. Den lauwarmen Abendwind sanft um die Beine wehen lassen. Und von einer fremden Hand am Unterarm berührt werden.
Wenn ich mit dem Fahrrad an der Straßenampel warte. Wie als Kind das Hoffen auf Weihnachten. Aus Langeweile betrachte ich die Menschen auf der anderen Straßenseite. Bemerke, sie sind da, wo du hinwillst. Das ist nur ein Zwischenstopp. Eine kurze Episode an diesem Tag. So oft schon erlebt. Bald vergessen. Gelöscht. Doch dort im Rinnstein ein Fünfzig-Cent-Stück. Und schon ein Geschenk des Tages entdeckt.
Wenn ich mit dem Fahrrad an der Straßenampel warte, sitze ich fest wie auf einem Wartestuhl beim Arzt. Wann werde ich endlich aufgerufen? Ich warte. Langsam steigt mir der Kaffee von vorgestern in die Kehle. Mein Arzt sagt, ich soll mich nicht aufregen, das sei nicht gut für mein Herz. Es kann sein, dass ich bald für immer zwischen den Brettern liege. So bezähme ich den Tiger in mir. Stehe wie ein braver Bürger auf dem Fußweg und schaue gelangweilt in die städtische Steppe.
Wenn ich mit dem Fahrrad an der Straßenampel warte, will ich schnell weiter fahren. Die Freundin im Café schaut ungeduldig auf die Uhr. Eine unsichtbare Macht zieht mich zu ihr, die nur ein paar Straßen weiter am Tisch sitzt. Aber in mir tickt die Sehnsucht wie eine Bombe, kurz vor der Explosion. Die Zündschnur glimmt bereits.
Wenn ich mit dem Fahrrad an der Straßenampel warte – und einfach eine Grünphase auslasse. Stehenbleibe am Straßenrand. Das macht doch kein Mensch, höre ich meinen Verstand sagen. Jeder erkennt in mir den Sonderling. Die Leute liefen an mir vorüber und würden mich verwundert ansehen. Ist der noch normal, denken sie. Der gehört in eine Anstalt. Mich dem Fluss des Lebens entgegenstemmen. Den allgemeinen Trott hinterfragen. Ich lasse mich jedoch vom Strom mitziehen und fahre über die Straße wie alle anderen.
Wenn ich mit dem Fahrrad an die Straßenampel komme – und einfach sie ignoriere. Ich fahre hinüber. Bei Rot. Hinter mir die bösen Blicke der Wartenden kann ich nicht sehen. Auch einige Rentner sind dabei. Ich kann ihre Gedanken über mich nicht erahnen. Ignorieren sie mich, oder beneiden sie meinen Mut. Oder denken sie, der gehört eingesperrt. Ich lasse sie in ihrem Frieden stehen, dort am Straßenrand.
Wenn ich mit dem Fahrrad an die Straßenampel komme – und einfach sie ignoriere. Ich will genau so stolz Rad fahren, wie die Autofahrer in ihren chromblitzenden Kisten und ihre Oberkörper im Rhythmus der Stones bewegen. Und denken, sie wären die Könige der Straße. Deshalb nutze ich die Lücke zwischen ihnen, zeige ihnen in Gedanken den Stinkefinger und radle auf die andere Seite.
Wenn ich mit dem Fahrrad an die Straßenampel komme – und einfach sie ignoriere. Ich fühle mich wie ein Dissident. Etwas Unerlaubtes tun. Was der brave Bürger nicht tut. Selbst wenn die Straße weit und breit leer ist. Es ist das Aufbegehren gegen die Normen des Alltags. Gegen das zähe Fließen des Unsinns an mir vorbei. In Dunkelheit sein, mitten am Tag. Tief im Herzen lege ich das Gewehr an. Ziele in die Mitte der Normalität. Und fahre frisch und frei in die Sonne. Komme auf der anderen Straßenseite an mit dem Stolz, jetzt doch etwas anders zu sein.
Frank Siegert