Liebes
Bruderherz!
Bitte
entschuldige die fahrige Schrift, ich habe seit dem Morgen nichts
gegessen und ich habe seit dem Morgen nichts getrunken. Ich habe kein
Gefühl in meinem Unterleib, in meinem Bauch. Es ist, als hätte ich
nicht einmal einen Magen. Aber in meinem Mund, da brennt es, die
Lippen sind mir zersprungen, die Zunge klebt am Gaumen. Dieser Durst,
er fährt mir nicht in den Hals, sondern in die Hand und ich muss Dir
schreiben, immerfort schreiben.
Wir
hatten Besuch, Tantchen und Onkelchen, und ihr Junge, fast erwachsen,
wie ich. Wir wurden spazieren geschickt, die Alten hätten etwas zu
besprechen, hieß es. Wir gingen also in den Wald, den Weg zwischen
den Kiefern suchend, und ich spürte die ganze Zeit seine Nähe,
seine Unruhe, sein Erwachen. Wir redeten und gingen und ein leichter
Wind ging mit uns. Und dann fuhr er mir mit der Hand unters Hemd, ich
kann es nicht erklären, er fuhr also unter den Stoff, so dass ich am
ganzen Körper zu zittern begann. Es erregte mich, aber es war der
Wind, der mich erregte, der Wind, der mir unters Hemd kroch,
verstehst Du?
Mein
lieber großer Bruder, warum bist Du nicht gekommen, hinter einem
Baum hervor. Warum hast Du mich nicht weggeführt, an einen warmen,
sicheren Ort. Dieser Wind macht alles unberechenbar, er weht wo er
will, so heißt es doch in der Schrift, nicht wahr? Du bist so fern,
Du bist seit Jahren so fern, Du bist ja auf Walz, ich weiß es, ich
weiß es doch, Mutter hat es oft genug erzählt und Vater hat oft
genug geschwiegen und immer durch das Fenster geschaut. Drei Jahre
muss sie gehen, diese Walz, sagt man und wenn Vater durch das Fenster
schaut, murmelt er manchmal vor sich hin: drei
Jahre!
Wieviel ist das? Und was erlebst Du, was erleidest Du?
Er
fuhr mir also unters Hemd, da, im Kiefernwald, bei den Föhren, nahe
der Schonung und ich war so verwirrt, dass ich gar nichts denken
konnte. Meine Füße standen auf dem Waldboden, sie wollten
fortlaufen, nach Hause. Aber meine Füße hingen fest im Moss und
mein Leib bog sich ihm entgegen, ich hatte meinen Körper nicht im
Griff. Meine Füße trippelten gewissermaßen schon und doch, meine
Haut war gespannt vor Erwartung, ich schwitzte aus jeder Pore, selbst
unter den Achselhöhlen. Und über all dem steht nun mein Kopf, meine
Lippen, die brennenden Lippen.
Du
bist so fern, lieber Bruder, dabei hängt sich meine ganze Seele an
Dich, an Dich allein. Ja, meine Seele ist flatterhaft, ich gebe es
zu. Die Leute spotten über Dich, wusstest Du das? Sie sagen: Ach,
der! Der ist nach Norden gegangen!
Dabei bist Du doch nach Süden gewandert, wir haben uns doch
verabschiedet, am hellen Vormittag und Dein Schatten ging hinter Dir
her, und nicht vor Dir hin. Du wandertest nach Süden, aber die Leute
tuscheln böse, Du seiest nach Norden gegangen. Du seiest bestimmt
schon in Lappland, sagen sie und seiest dort sesshaft geworden. Du
wohntest dort in einem lappländischen Haus, mit einem lappländischen
Weib, sagen sie. Jung und zart sei dieses Weib und werde bald ein
kleines, lappländisches Baby zur Welt bringen! O, diese Heuchler!
Sie sagen es, um mich eifersüchtig zu machen! Aber ich bin nicht
eifersüchtig, nein, überhaupt nicht!
Er
fuhr mir unters Hemd, ich muss mich jetzt selbst daran erinnern, der
Durst lässt langsam nach, obwohl ich doch gar nichts getrunken habe.
Aber er wollte mehr, viel mehr. Er wollte die Hemden tauschen, sein
Hemd gegen meins. Hemd gegen Bluse. Baumwolle gegen Seide. Karos
gegen Blümchen. Linksknöpfung gegen Rechtsknöpfung. Junge gegen
Mädchen. Schweiß gegen Schweiß. Und, ja, das war nun wirklich ein
bisschen fett. Das ging ja nun gar nicht. Und ich lief los, über das
Moos, aber er hatte mich nach wenigen Schritten eingeholt und
einfach, einfach…
Ach,
was ist das mit den Männern, in den lauen Maiennächten, wenn sie am
Feuer sitzen. Ich höre ihre Lieder, ich höre ihre Stimmen, ihre
überheblichen Stimmen und ich sehe ihre Umrisse gegen den hellen
Schein des Feuers. Beim nächsten Mal werde ich einen Scherenschnitt
fertigen, jawohl, einen Scherenschnitt. Da
habt ihr’s,
werde ich sagen, so
seid ihr! Eure Lieder klingen fremd und machmal auch grässlich,
werde ich sagen. Und
je länger der Abend fortschreitet, umso lauter werdet ihr,
werde ich sagen. Doch weißt Du, mein großer Bruder, weißt Du, zu
guter Letzt, wenn das Feuer heruntergebrannt, werden die Männer ganz
still, so still, dass es einem das Herz bricht. Und einer von ihnen
hebt dann an zu einer alten Weise, die von den Vätern erzählt, und
von den Großvätern. Merkwürdig, Männer erinnern sich immer an
Männer.
Er
hat also sein Hemd getauscht, gegen meins, kaum wusste ich, was
geschah und ich kann auch jetzt nicht sagen, was geschah. Ich habe
keine Worte dafür, keine Worte für das Stehen, da, mitten im Wald.
Keine Worte für das Befinden, dass man hat, wenn man so schutzlos an
der frischen Luft steht, im Blick des anderen. Jetzt bog sich mein
Körper in sich selbst, er wollte sich zusammenrollen wie ein Igel,
aber es ging nicht. Ich stand da, mitten im Wald und wollte weinen,
aber es ging nicht. Nur ein schwacher Laut aus der Kehle kam heraus,
wir ein verirrter Vogel. Es ging dann auch schnell, ich trug auf
einmal ein großes Holzfällerhemd an meinem Körper, es hing von
allen Seiten herab und dann gingen wir weiter, er und ich. Er wollte
meine Hand nehmen, aber ich zog sie weg und presste sie fest an mich.
Weißt
Du, Bruder, höre genau zu, ich hatte einen Traum: ich träumte, das
Bier der Männer sei mir fremd. darin sie sich ersäufen. Und auch
ihre Kriege seien mir fremd, darin sie sich erschlagen. Und ihre
Mädchen seien mir fremd, darin sie sich ergießen. All’ das hab
ich nicht, um meinen Schmerz abzuleiten, meine Selbstzweifel, meine
Gefühle. Ach, dürfte ich Dich lieben. Könnte sich doch meine ganze
Seele an Dich hängen. Aber die Leute verhöhnten mich, gestände ich
ihnen, wie sehr mein Herz an einer Geschwisterliebe hängt!
Und
nun presste ich also, da im Wald, die Hand an mich, aber ach, was
sage ich, an das blöde Holzfällerhemd presste ich meine Hand, da
war ich also wieder bei ihm, obwohl ich doch gar nicht wollte. Und,
es ist ja auch unlogisch, ich weiß, wer das Hemd eines Mannes trägt,
kann erst Recht seine Hand nehmen. Und wer seine Hand nimmt, kann
auch seine Lippen nehmen. Und wer seine Lippen nimmt, kann auch sein
Bett nehmen. Und wer sein Bett nimmt, kann auch den Tisch mit ihm
teilen. Obwohl es umgekehrt sein sollte, aber das ist das Verhängnis
der Zeit. Es ging nicht, es war so fremd, so fremd an meinem Leib. Es
war so still, da im Wald, kein Laut, die letzte Amsel war schon vor
Stunden mit einem Tok-Tok verschwunden. Auch die Sonne war vergangen,
hinter den Wolken, fast war es wie vor einem großen Regen.
Die
Liebe zu Dir, mein Bruder, ist mir näher. Und würde ich sie
öffentlich bekennen, wer weiß, was passieren würde. Vielleicht
würde ich fester dadurch. Vielleicht würde mein Rücken gerader,
meine Haltung aufrechter, meine Brüste fester, mein Tritt sicherer,
mein Blick kecker, mein Mund fröhlicher, meine Gedanken heller. Es
ist so dunkel um mich. Oder nein, eher diffus grau, ein Nebel, aber
kein Nebel, der wach und aufmerksam macht, so dass man das Knacken
eines Zweiges schon auf hundert Meter genau hört. Eher ein Nebel
voller Schlingen, wabernd, ein Nebel wie ein Wollknäuel, so dass ich
plötzlich ein kleines Mädchen bin, ein winzig kleines Mädchen,
mitten drin in dieser Aussparung, in dieser Öffnung Welt.
Ich ertrinke, Bruderherz und darf Dir meine Liebe nicht gestehen.
Doch
der Nachmittag war noch nicht zu Ende, da im Kiefernwald, auch wenn
wir uns heimwärts bewegten. Er wollte mich nehmen, ich spürte es
deutlich, ich war so unruhig, alles zitterte in mir, ich wusste
nicht, wohin und hatte kein Zentrum, verstehst Du? Nicht, dass ich
mich verweigern wollte, aber es war so…so ohne Ort, ohne Mitte. Es
war alles voller Ränder um mich, ja, ich lief auf einem Rand
entlang, auf dem Rand einer riesigen Sahneteorte, wo die Füße ins
Süße sinken und man genau weiß, dass man im nächsten Moment
abrutscht. Oder nein, dieser Rand war noch mehr, viel mehr, er war
der Rand der Welt und ich, ich drohte aus der Welt zu fallen.
Die
Schwermut hat mich gepackt und sie rüttelt und schüttelt mich. Ich
weiß nicht, woher sie kommt. Viel weniger aber weiß ich, wohin sie
geht. Ja, wohin geht sie denn? Weißt Du es? Und wenn Du es wüsstest,
würdest Du es mir sagen? Ich möchte mich mit Dir verloben, mein
Bruderherz, aber das ist ja komplett verrückt, damit bin ich ja
praktisch reif für das Irrenhaus! Aber ich bin nicht irre an Dir.
Ich mag Dich und ich schütze Dich, obwohl ich nur Deine kleine
Schwester bin. Ich bin irre an der Welt. Die Welt ist es, die mich
packt, die mich rüttelt und schüttelt. Und die Schwermut ist ihr
Ausdruck. Freilich muss man an der Welt nicht irre werden, viele
leben recht gut in ihr, die allermeisten sogar, aber diese Welt
erwischt so einen Punkt in mir, einen schwachen Punkt.
Wir
hatten inzwischen den Waldweg erreicht, hier war mir wohler, ich sah
ihn von der Seite an und musste kichern. Da ging er also, mit einem
Hemd voller Blümchenmuster, das sich unter seiner starken Schulter
spannte. Er war stolz auf dieses Blümchenmuster, ich sah es ihm an
und für diesen einen Moment verstand ich ihn. Ich kicherte also, er
drehte sich zu mir und wirkte in diesem Moment so unsicher, so offen.
Da gab ich ihm einen Kuss auf die Wange und lachte und lief vor ihm
hin und er musste auch lachen und lief hinter mir her. Aber er packte
mich nicht mehr, er berührte nur sacht meinen Arm und ich versprach
ihm Freundschaft. Er schwieg dazu und deshalb wiederholte ich mein
Versprechen, das Versprechen einer Freundschaft. Und jetzt bindet es
mich, es bindet mich an die Welt und ich drohe einmal weniger von
ihrem Rand zu fallen. Wir tauschten unsere Hemden zurück. Als ich
das Holzfällerhemd aufknöpfte, drehte er sich zur Seite.
Liebes
Bruderherz, jetzt ist mir besser, danke, dass ich Dir das schreiben
konnte. Die Leute sind grässlich, nicht nur, dass sie behaupten, Du
seiest nach Norden gegangen, statt nach Süden. Manche behaupten, Du
seiest längst gestorben. Und andere sagen, es habe Dich überhaupt
nie gegeben. Aber ich weiß, dass es Dich gibt, da draußen. Immer,
wenn ich Dich so aus der Ferne bitte, spüre ich, wie mir die Last
leichter wird, und wie die Lust in mir an Behutsamkeit und an Farbe
gewinnt. Bruder, vergiss mich nicht. Und wenn Du heimkommst, erzähl
mir, was Du erlebt hast. Alles, wirklich alles, ja? Ich freue mich
schon! Ich werde Dich drücken und herzen. Erzähle all’ die
wundersamen Geschichten, alle. Und ich, ich werde Dir glauben.
Andreas Schrock/Senftenberg, Januar 2014, letzte Bearbeitung Dresden Febr. 2014