liane

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Isabel Arndt: Zwei Wochen noch

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II

10.03.20

Zwei Wochen noch. Die Spielfigur rückt voran. Mein Zeigefinger reist bunten Linien nach. Das Tablet leuchtet. Ich erkläre etwas, was mit mir nichts zu tun hat. Kap Horn, die Magellan-Straße, Torres del Paine im Lieblingsrestaurant. Warmer Kerzenschein und die ganzen Möglichkeiten füllen den Raum.

Wirklich dort sein wird komplett anders sein, heftigster Wind, mit Schnee ist immer zu rechnen und die Einsamkeit und ich – wir werden Freundschaft schließen müssen.

Jedes Abschiedstreffen bringt neue Ratschläge: was ich mitzunehmen, zu bedenken, zu planen, keinesfalls zu verpassen habe. Es ist fast gar nicht mehr meine Reise. Ich weiß, ihr meint es gut; ich mag euch, alle, die ihr euch sorgt. Einiges wird mich beschützen, anderes Ballast sein – wie unterscheiden? Die Ausrüstung unter die volle Gießkanne halten bringt neue Erkenntnisse. Einiges muss neu besorgt werden. Noch ist ein bisschen Zeit. Sicher ist: ich werde nicht auf alles vorbereitet sein. Muss improvisieren. Muss eine Achillessehne mitnehmen, die vor all dem streikt. Toller Zeitpunkt, wirklich. Ich verlasse Menschen, die ich liebe und liebenswerte welche, die ich grade erst traf.

Das Haus hat noch keinen, den es wärmt, wenn ich weg bin; wir suchen noch immer, das zermürbt. Und was wird dieser Virus noch alles anstellen, welche Grenzen versperren sich – am Ende kann ich nirgendwohin. Und womit? Der perfekte neue Rucksack steht vollgepackt im Wohnzimmer neben all den Sachen, die auch noch mit wollen. Die Gedanken rennen in meinem Kopf kreuz und quer. Die Tagesaufgaben auf Arbeit erledigt grade jemand, der aussieht wie ich, aber gar nicht bei der Sache ist. Ach, sag ich. Dabei wollte ich mich doch freuen.

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Isabel Arndt: Unterwegs

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Isabel

(1)

Es gibt solche Tage. Solche, die ins Licht geboren werden. Die beginnen, wenn es Zeit ist.

Die anderen, die aus der Nacht geschnitten werden, Frühchen von Tagen also, die blass und schwach starten, die im Brutkasten des Morgens liegen – die will ich nicht mehr beginnen noch beenden. Jetzt, jetzt, jetzt kriegen die Tage ein Possessivpronomen, sie heißen: meine.

Noch zwei Monate und ich fahre los. 51 Jahre mit dem Leben verhandelt. Auf Knien, im Dreck, im Sturm. Verträge abgeschlossen, kleinste gemeinsame Nenner gefunden. Je mehr Kompromisse, desto kleiner die Zahl. Bin Bruch, immer der Bruch eines Ganzen gewesen. Jetzt werde ich  Zähler sein. Die Sache ist gekippt. Die Südhalbkugel wird für mich bald oben sein. Das Ende der Welt, el fin del mundo ein Anfang.

Ich möchte ins Fremde tauchen. Ins Dunkel, ins Unbekannte. Es hat Gesichter, Sprachen, Farben, Gerüche. Es hat Gassen und steinige Aufstiege. Es hat womöglich spitze Zähne.  Ich kenne es nicht. Es ist wie das Morgen. Ich möchte es begrüßen. Aufrichtig, freundlich, respektvoll. Möchte das Haus erkunden, das unsere Welt ist. Den Mörtel und die Einschusslöcher.

Meine Augen sind eure Ferngläser. Wenn ihr wollt, kommt mit – seht, lest.

Sei herzlich gegrüßt von

Isabel

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Isabel Arndt: ACH, ALLES

ACH, ALLES für mh seegang mit dir immer seegang du bist ein schiff, das wusstest du nicht aber das meer, liebster, ist, was uns umtreibt und dunkel und tief in uns ist deine planken krachen es sind so herrliche planken ich möchte immerzu barfuß auf ihnen… und. dir auf den mast klettern die kompassnadel tanzt. die lieder singen wir schon mal ohne das klavier die noten fallen einfach aus deinem haar beim setzen der segel ich fand deine flaschenpost. du, treibender warfst sie mir direkt aufs Auge frau über bord ist kein gängiger notruf. also kam ich wieder an bord, dein dunkel abtropfend was wir tun können, spät, nachts, ist den wehenden gedanken folgen beieinander sein, schauen: die kontinente sind längst nicht alle entdeckt 16.01.20 isabel arndt

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ACH, ALLES
für mh

seegang mit dir immer seegang
du bist ein schiff, das wusstest du nicht
aber das meer, liebster, ist, was uns umtreibt
und dunkel und tief in uns ist

deine planken krachen
es sind so herrliche planken
ich möchte immerzu barfuß auf ihnen…
und. dir auf den mast klettern

die kompassnadel tanzt. die lieder
singen wir schon mal ohne das klavier
die noten fallen einfach aus deinem haar
beim setzen der segel

ich fand deine flaschenpost. du, treibender
warfst sie mir direkt aufs Auge
frau über bord ist kein gängiger notruf. also
kam ich wieder an bord, dein dunkel abtropfend

was wir tun können, spät, nachts, ist
den wehenden gedanken folgen
beieinander sein, schauen:
die kontinente sind längst nicht alle entdeckt

16.01.20
isabel arndt

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Weitere Vorschläge für unser Projekt zum 30-jährigem Bestehens des Eitel Kunst e. V. im Jahr 2020

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Haiku von Lars Steger: am Ende das Bild September 24, 2019
Haiku von Lars Steger: die Bauernrose
Haiku von Lars Steger: gegen die grelle des morgens Juli 23, 2019
Haiku von Lars Steger: sonniger Morgen
Haiku von Lars Steger: kastaniengrün Januar 10, 2020
Haiku von Lars Steger: unterm Blau Juni 28, 2019
Gerhard Jaeger: Von den Flügeln, dem Fliegen, dem Tanz und dem Mond – Rezension zu Gedichten von Liane Fehler
Gerhard Jaeger: Collage?
Gerhard Jaeger: Vorgewortetes… (aus dem GeWa 115)
Gerhard Jaeger: Habe ich das Rauschen
Gerhard Jaeger: Singende Katzen
Gerhard Jaeger: Wenn man Petra zuhört …
Gerhard Jaeger: „Ein paar Worte zur Erzählzeit“
Marita Hotopp: Auf der Suche
Maria Goldberg: Wie Muschelperlmutt
Maria Goldberg: Waldeinsamkeit
Maria Goldberg: regentropfengleich
sibyll maschler (Lyrik und Foto): Abbitte
sibyll maschler: Herbst
smt: Selig – aus der Anthologie unDichternebel: 2001 – 2015
Andreas Schrock: Brief einer Schwester an ihren großen Bruder



Liane Fehler Onlineredaktion

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Erste Vorschläge für unser Projekt zum 30-jährigem Bestehens des Eitel Kunst e. V. im Jahr 2020

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Liebe Freunde,
das sind erste Texte und Bilder zur Auswahl für eine elektronische Darstellung unserer Arbeiten, die als PDF-Dokument oder als E-Book einen Einblick in die Vielfalt der Stimmen unserer Gemeinschaft geben soll.
Diese Auswahl ist eine Arbeitsversion – sie ist nicht repräsentativ – noch nicht vollständig – nur ein Anfang.

Ich hoffe, Ihr habt auch so viel Freude beim (Wieder-)Entdecken.
Je nach Beteiligung werde ich den Fortschritt dieses Projektes hier zeitnah dokumentieren. Wer mag, kann sich über die bekannten Kommunikationswege einbringen oder auch einfach die Kommentarfunktion unseres Blogs nutzen.
Ich bin gespannt auf dass, was kommt.

Seid auch noch einmal mit den besten Wünschen für das neue Jahr bedacht und fühlt Euch umarmt.

Liane Fehler
Onlineredaktion


PS: Magdalene hat heute bei unserem Treffen zu L+S die wichtige Frage nach einem Titel für unser Projekt aufgeworfen. Auch dazu sind Vorschläge herzlich willkommen.

Andreas Schrock: Wie soll ich es sagen
Libella Hoge-Yazar: Bedingungslos
Andreas Schrock: Depression
Andreas Schrock: Ballade des Mannes im Dorfkrug zu Briesen
Andreas Schrock: Haiku: worte wehen leis`
Andreas S.: klassentreffen
Andreas Schrock: satt liegt der abend
Andreas Schrock: frühling in dresden
Andreas Schrock: Wer bin ich, wenn ich schreibe?
Liane Fehler: Herbstlied
Liane Fehler: Wehmut mit Whiskygeschmack
Andreas Schrock: judas, ich, am morgen
Liane Fehler: Metamorphose
Gerhard Jaeger – Bild: Insel
Gerhard Jaeger – Bild: Burg 13
Gerhard Jaeger – Bild: Kirche-Samos
Gerhard Jaeger – Bild: Arche-9

Liane Fehler Onlineredaktion

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Brief einer Schwester an ihren großen Bruder

Andreas Schrock

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Liebes Bruderherz!

Bitte entschuldige die fahrige Schrift, ich habe seit dem Morgen nichts gegessen und ich habe seit dem Morgen nichts getrunken. Ich habe kein Gefühl in meinem Unterleib, in meinem Bauch. Es ist, als hätte ich nicht einmal einen Magen. Aber in meinem Mund, da brennt es, die Lippen sind mir zersprungen, die Zunge klebt am Gaumen. Dieser Durst, er fährt mir nicht in den Hals, sondern in die Hand und ich muss Dir schreiben, immerfort schreiben.

Wir hatten Besuch, Tantchen und Onkelchen, und ihr Junge, fast erwachsen, wie ich. Wir wurden spazieren geschickt, die Alten hätten etwas zu besprechen, hieß es. Wir gingen also in den Wald, den Weg zwischen den Kiefern suchend, und ich spürte die ganze Zeit seine Nähe, seine Unruhe, sein Erwachen. Wir redeten und gingen und ein leichter Wind ging mit uns. Und dann fuhr er mir mit der Hand unters Hemd, ich kann es nicht erklären, er fuhr also unter den Stoff, so dass ich am ganzen Körper zu zittern begann. Es erregte mich, aber es war der Wind, der mich erregte, der Wind, der mir unters Hemd kroch, verstehst Du?

Mein lieber großer Bruder, warum bist Du nicht gekommen, hinter einem Baum hervor. Warum hast Du mich nicht weggeführt, an einen warmen, sicheren Ort. Dieser Wind macht alles unberechenbar, er weht wo er will, so heißt es doch in der Schrift, nicht wahr? Du bist so fern, Du bist seit Jahren so fern, Du bist ja auf Walz, ich weiß es, ich weiß es doch, Mutter hat es oft genug erzählt und Vater hat oft genug geschwiegen und immer durch das Fenster geschaut. Drei Jahre muss sie gehen, diese Walz, sagt man und wenn Vater durch das Fenster schaut, murmelt er manchmal vor sich hin: drei Jahre! Wieviel ist das? Und was erlebst Du, was erleidest Du?

Er fuhr mir also unters Hemd, da, im Kiefernwald, bei den Föhren, nahe der Schonung und ich war so verwirrt, dass ich gar nichts denken konnte. Meine Füße standen auf dem Waldboden, sie wollten fortlaufen, nach Hause. Aber meine Füße hingen fest im Moss und mein Leib bog sich ihm entgegen, ich hatte meinen Körper nicht im Griff. Meine Füße trippelten gewissermaßen schon und doch, meine Haut war gespannt vor Erwartung, ich schwitzte aus jeder Pore, selbst unter den Achselhöhlen. Und über all dem steht nun mein Kopf, meine Lippen, die brennenden Lippen.

Du bist so fern, lieber Bruder, dabei hängt sich meine ganze Seele an Dich, an Dich allein. Ja, meine Seele ist flatterhaft, ich gebe es zu. Die Leute spotten über Dich, wusstest Du das? Sie sagen: Ach, der! Der ist nach Norden gegangen! Dabei bist Du doch nach Süden gewandert, wir haben uns doch verabschiedet, am hellen Vormittag und Dein Schatten ging hinter Dir her, und nicht vor Dir hin. Du wandertest nach Süden, aber die Leute tuscheln böse, Du seiest nach Norden gegangen. Du seiest bestimmt schon in Lappland, sagen sie und seiest dort sesshaft geworden. Du wohntest dort in einem lappländischen Haus, mit einem lappländischen Weib, sagen sie. Jung und zart sei dieses Weib und werde bald ein kleines, lappländisches Baby zur Welt bringen! O, diese Heuchler! Sie sagen es, um mich eifersüchtig zu machen! Aber ich bin nicht eifersüchtig, nein, überhaupt nicht!

Er fuhr mir unters Hemd, ich muss mich jetzt selbst daran erinnern, der Durst lässt langsam nach, obwohl ich doch gar nichts getrunken habe. Aber er wollte mehr, viel mehr. Er wollte die Hemden tauschen, sein Hemd gegen meins. Hemd gegen Bluse. Baumwolle gegen Seide. Karos gegen Blümchen. Linksknöpfung gegen Rechtsknöpfung. Junge gegen Mädchen. Schweiß gegen Schweiß. Und, ja, das war nun wirklich ein bisschen fett. Das ging ja nun gar nicht. Und ich lief los, über das Moos, aber er hatte mich nach wenigen Schritten eingeholt und einfach, einfach…

Ach, was ist das mit den Männern, in den lauen Maiennächten, wenn sie am Feuer sitzen. Ich höre ihre Lieder, ich höre ihre Stimmen, ihre überheblichen Stimmen und ich sehe ihre Umrisse gegen den hellen Schein des Feuers. Beim nächsten Mal werde ich einen Scherenschnitt fertigen, jawohl, einen Scherenschnitt. Da habt ihr’s, werde ich sagen, so seid ihr! Eure Lieder klingen fremd und machmal auch grässlich, werde ich sagen. Und je länger der Abend fortschreitet, umso lauter werdet ihr, werde ich sagen. Doch weißt Du, mein großer Bruder, weißt Du, zu guter Letzt, wenn das Feuer heruntergebrannt, werden die Männer ganz still, so still, dass es einem das Herz bricht. Und einer von ihnen hebt dann an zu einer alten Weise, die von den Vätern erzählt, und von den Großvätern. Merkwürdig, Männer erinnern sich immer an Männer.

Er hat also sein Hemd getauscht, gegen meins, kaum wusste ich, was geschah und ich kann auch jetzt nicht sagen, was geschah. Ich habe keine Worte dafür, keine Worte für das Stehen, da, mitten im Wald. Keine Worte für das Befinden, dass man hat, wenn man so schutzlos an der frischen Luft steht, im Blick des anderen. Jetzt bog sich mein Körper in sich selbst, er wollte sich zusammenrollen wie ein Igel, aber es ging nicht. Ich stand da, mitten im Wald und wollte weinen, aber es ging nicht. Nur ein schwacher Laut aus der Kehle kam heraus, wir ein verirrter Vogel. Es ging dann auch schnell, ich trug auf einmal ein großes Holzfällerhemd an meinem Körper, es hing von allen Seiten herab und dann gingen wir weiter, er und ich. Er wollte meine Hand nehmen, aber ich zog sie weg und presste sie fest an mich.

Weißt Du, Bruder, höre genau zu, ich hatte einen Traum: ich träumte, das Bier der Männer sei mir fremd. darin sie sich ersäufen. Und auch ihre Kriege seien mir fremd, darin sie sich erschlagen. Und ihre Mädchen seien mir fremd, darin sie sich ergießen. All’ das hab ich nicht, um meinen Schmerz abzuleiten, meine Selbstzweifel, meine Gefühle. Ach, dürfte ich Dich lieben. Könnte sich doch meine ganze Seele an Dich hängen. Aber die Leute verhöhnten mich, gestände ich ihnen, wie sehr mein Herz an einer Geschwisterliebe hängt!

Und nun presste ich also, da im Wald, die Hand an mich, aber ach, was sage ich, an das blöde Holzfällerhemd presste ich meine Hand, da war ich also wieder bei ihm, obwohl ich doch gar nicht wollte. Und, es ist ja auch unlogisch, ich weiß, wer das Hemd eines Mannes trägt, kann erst Recht seine Hand nehmen. Und wer seine Hand nimmt, kann auch seine Lippen nehmen. Und wer seine Lippen nimmt, kann auch sein Bett nehmen. Und wer sein Bett nimmt, kann auch den Tisch mit ihm teilen. Obwohl es umgekehrt sein sollte, aber das ist das Verhängnis der Zeit. Es ging nicht, es war so fremd, so fremd an meinem Leib. Es war so still, da im Wald, kein Laut, die letzte Amsel war schon vor Stunden mit einem Tok-Tok verschwunden. Auch die Sonne war vergangen, hinter den Wolken, fast war es wie vor einem großen Regen.

Die Liebe zu Dir, mein Bruder, ist mir näher. Und würde ich sie öffentlich bekennen, wer weiß, was passieren würde. Vielleicht würde ich fester dadurch. Vielleicht würde mein Rücken gerader, meine Haltung aufrechter, meine Brüste fester, mein Tritt sicherer, mein Blick kecker, mein Mund fröhlicher, meine Gedanken heller. Es ist so dunkel um mich. Oder nein, eher diffus grau, ein Nebel, aber kein Nebel, der wach und aufmerksam macht, so dass man das Knacken eines Zweiges schon auf hundert Meter genau hört. Eher ein Nebel voller Schlingen, wabernd, ein Nebel wie ein Wollknäuel, so dass ich plötzlich ein kleines Mädchen bin, ein winzig kleines Mädchen, mitten drin in dieser Aussparung, in dieser Öffnung Welt. Ich ertrinke, Bruderherz und darf Dir meine Liebe nicht gestehen.

Doch der Nachmittag war noch nicht zu Ende, da im Kiefernwald, auch wenn wir uns heimwärts bewegten. Er wollte mich nehmen, ich spürte es deutlich, ich war so unruhig, alles zitterte in mir, ich wusste nicht, wohin und hatte kein Zentrum, verstehst Du? Nicht, dass ich mich verweigern wollte, aber es war so…so ohne Ort, ohne Mitte. Es war alles voller Ränder um mich, ja, ich lief auf einem Rand entlang, auf dem Rand einer riesigen Sahneteorte, wo die Füße ins Süße sinken und man genau weiß, dass man im nächsten Moment abrutscht. Oder nein, dieser Rand war noch mehr, viel mehr, er war der Rand der Welt und ich, ich drohte aus der Welt zu fallen.

Die Schwermut hat mich gepackt und sie rüttelt und schüttelt mich. Ich weiß nicht, woher sie kommt. Viel weniger aber weiß ich, wohin sie geht. Ja, wohin geht sie denn? Weißt Du es? Und wenn Du es wüsstest, würdest Du es mir sagen? Ich möchte mich mit Dir verloben, mein Bruderherz, aber das ist ja komplett verrückt, damit bin ich ja praktisch reif für das Irrenhaus! Aber ich bin nicht irre an Dir. Ich mag Dich und ich schütze Dich, obwohl ich nur Deine kleine Schwester bin. Ich bin irre an der Welt. Die Welt ist es, die mich packt, die mich rüttelt und schüttelt. Und die Schwermut ist ihr Ausdruck. Freilich muss man an der Welt nicht irre werden, viele leben recht gut in ihr, die allermeisten sogar, aber diese Welt erwischt so einen Punkt in mir, einen schwachen Punkt.

Wir hatten inzwischen den Waldweg erreicht, hier war mir wohler, ich sah ihn von der Seite an und musste kichern. Da ging er also, mit einem Hemd voller Blümchenmuster, das sich unter seiner starken Schulter spannte. Er war stolz auf dieses Blümchenmuster, ich sah es ihm an und für diesen einen Moment verstand ich ihn. Ich kicherte also, er drehte sich zu mir und wirkte in diesem Moment so unsicher, so offen. Da gab ich ihm einen Kuss auf die Wange und lachte und lief vor ihm hin und er musste auch lachen und lief hinter mir her. Aber er packte mich nicht mehr, er berührte nur sacht meinen Arm und ich versprach ihm Freundschaft. Er schwieg dazu und deshalb wiederholte ich mein Versprechen, das Versprechen einer Freundschaft. Und jetzt bindet es mich, es bindet mich an die Welt und ich drohe einmal weniger von ihrem Rand zu fallen. Wir tauschten unsere Hemden zurück. Als ich das Holzfällerhemd aufknöpfte, drehte er sich zur Seite.

Liebes Bruderherz, jetzt ist mir besser, danke, dass ich Dir das schreiben konnte. Die Leute sind grässlich, nicht nur, dass sie behaupten, Du seiest nach Norden gegangen, statt nach Süden. Manche behaupten, Du seiest längst gestorben. Und andere sagen, es habe Dich überhaupt nie gegeben. Aber ich weiß, dass es Dich gibt, da draußen. Immer, wenn ich Dich so aus der Ferne bitte, spüre ich, wie mir die Last leichter wird, und wie die Lust in mir an Behutsamkeit und an Farbe gewinnt. Bruder, vergiss mich nicht. Und wenn Du heimkommst, erzähl mir, was Du erlebt hast. Alles, wirklich alles, ja? Ich freue mich schon! Ich werde Dich drücken und herzen. Erzähle all’ die wundersamen Geschichten, alle. Und ich, ich werde Dir glauben.

Andreas Schrock/Senftenberg, Januar 2014, letzte Bearbeitung Dresden Febr. 2014

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Ein gutes neues Jahr 2020 für alle “Eitlen Künstler”und Freunde der “UnDichter”

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Liebe “Eitlen Künstler”und Freunde der “UnDichter”,

euch allen wünsche ich einen guten Rutsch und ein tolles, kreatives neues Jahr 2020.
Mögen viele Vorhaben gelingen, die als Idee das Licht der Welt erblickt haben und mögen uns allen wieder erfüllende Stunden der Gemeinsamkeit, Verbundenheit und Gemeinschaft beschieden sein.

Ein von Herzen kommendes Dankeschön, für die geleistete Arbeit in der zurück liegenden Zeit geht an alle, die unseren Verein mit Fleiß, Ideen und Durchhaltevermögen tragen und immer wieder erneut beleben. Das macht ihr wirklich gut. Schön dass es Euch gibt! 😉

Ihr Lieben – seid herzlichst gegrüßt und umarmt.



Liane Fehler – Onlineredaktion

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sibyll maschler: Einen Steinwurf weit

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Foto von Sibyll Maschler
Foto von sibyll maschler

Es war bewölkt, etwas frisch, im März am Meer. Die See schwappte ruhig ans Ufer. Marias Urlaub ging zu Ende. Nun bildete ein Klassentreffen den Abschluss. Maria hatte noch einmal den Kragen ihres flauschigen Wollmantels hoch geschlagen, die fröstelnden Hände in den Taschen vergraben und ging mit einer etwa zehnköpfige Gruppe am Strand spazieren. Im Wasser waren weder Algen noch Quallen sichtbar, aber am Ufer viele Steine. Man konnte jedoch mühelos darüber hinweg gehen. Keine Klippen, kein aufgetürmtes Gestein, über das man vielleicht hinweg klettern musste, sondern überwiegend schöner Sandstrand. Die größten Steine waren etwa faustgroß. Werner erzählte bereits eine ganze Weile mit seiner Weggefährtin und fragte schließlich etwas lauter in die Runde: „Wisst ihr eigentlich, dass man Hühnergötter nicht verschenken soll?“ Jemand verneinte unmittelbar und schien damit die Antwort für alle gegeben zu haben. Während sich so etwas wie Nachdenklichkeit ausbreitete, verringerte sich die Schrittgeschwindigkeit der Gruppe. Eine Frau fragte: „Warum sollte man die Hühnergötter denn nicht verschenken? Gestern habe ich nämlich so viele gehabt, dass ich unserer Erzieherin zwei Hände voll von meinen abgab, schließlich wusste ich, dass sie welche für ihre Schützlinge suchte.“ „Abgeben ist ja auch gut und richtig.“, erwiderte Werner. „Aber verschenken sollte wir sie nicht. Wer kann sich schon leisten, gefundenes Glück einfach mal so zu verschenken?!“ Da erhoben sich Raunen und Lachen und alle hatten verstanden. Bevor sich wieder Gespräche entwickeln konnten, rief Adam mit fröhlicher Stimme in die Runde: „Lasst uns ein Spiel spielen! Steine werfen. Wir beginnen, indem sich jeder von uns zunächst einen hässlichen und einen hübschen Stein sucht. Los geht’s!“

Maria ging sogleich in die Hocke und begann sich umzuschauen. Den hässlichen Stein hatte sie schnell gefunden. Sie hob einen auf, der ihrer Meinung nach nichts am Strand zu suchen hatte. Denn er war aus Beton; unförmig abgebrochen, scharfkantig, von grober Körnung und langweilig graubrauner Farbe. Diesen Klotz konnte Maria gerade noch mit einer Hand greifen. Sie nahm ihn in die linke Hand und glitt sogleich mit der rechten über die umliegenden. Es wurde schwieriger. Die Auswahl an hübschen Steinen war sehr groß. Nach welchen Kriterien sollte sie eigentlich suchen? War eine angenehme Form wichtiger als die Farbgebung? Wie sollte sich ein schöner Stein anfühlen, sich in die Hand einschmiegen? Würde sie auf die Schnelle sogar einen Hühnergott finden? Doch diesen Gedanken verwarf sie besser gleich wieder. Ein Loch sollte ihr schöner Stein nun gerade nicht haben. Die Wahl fiel ihr wirklich schwer. Keiner der Gruppe nutzte einen anderen Stein, um damit nach tiefer gelegenen Steinen zu graben, außer Maria. Letztlich entschied sie sich für einen Stein, der angenehm in ihrer Hand lag, weder kreisrund noch ganz flach war, sondern eiförmig und etwa daumendick. Ebenmäßig, ja, er war ebenmäßig. Es schien, als bestünde er ziemlich genau aus einer sandfarbenen und einer rötlichen Hälfte. Marias Stein fühlte sich sowohl schlicht als auch edel an, wie ein wohliger Handschmeichler. Nun, dieser sollte jetzt tatsächlich für diesen Moment der ihre sein. Gerade als Maria ihn aufgenommen hatte, sagte Adam, „Jetzt legt ihr sinnbildlich all das, was ihr loswerden wollt, schon lange abschütteln möchtet, was euch vielleicht verletzt oder wehtut, in den hässlichen Stein hinein und werft ihn so weit wie möglich ins Meer. In den anderen Stein wünscht ihr alles Schöne und Gute.“

Maria fand diese Idee super. Sie stand unmittelbar auf und sprang auf der Stelle, laut juchzend in die Luft. Dieser Glücksseufzer war so übermütig und ansteckend, dass alle lachen mussten.

Maria wusste sofort, was sie in den hässlichen Betonklotz randvoll, ach, übervoll metaphorisch hineindenken und –fühlen wollte. Den Schmerz aus der Kindheit, Scham über die Wahl des Kindesvaters, die Furcht vor der Einsamkeit im Alter, ihr heilloses Streben nach Unabhängigkeit. Ach, da gab es eine Menge an Unrat.

Und etwas Schönes hatte sie ja gerade erlebt. Da gab es in den vergangenen drei Wochen eine neue Bekanntschaft. Deshalb war gerade ein Jubel in Maria, welcher erstaunlich rasch an Bedeutung gewonnen hatte. Sie wollte ihn dennoch dem Meer, im Tausch gegen ihre Lasten, übergeben. Die Freude würde ein würdiges Gegengewicht zu dem Schweren darstellen. Vielleicht war es sogar schon ein lieblicher Tanz, ein beginnendes Fest, zumindest bei ihr. Wahrscheinlich würde die Hergabe mehr einem Opfer gleichen als einer Übergabe an das Meer.

Leider war ihre Bekanntschaft bereits wieder abgereist. Sie hatte ihn gebeten, alles mitzunehmen, was zwischen ihnen begonnen hatte. Dabei versuchte sie sich glauben zu machen, dass es ihr einerlei sei, ob er es hüten würde oder nicht. Hauptsache, er würde es forttragen, mitnehmen, weg von ihr. Doch entweder hatte sie sich nicht klar genug ausgedrückt oder er hatte gemogelt. Denn Marias Zuneigung war seit dem keinesfalls weniger geworden. Vielmehr spürte sie noch deutlich die Schwingungen ihrer Begegnung. Bisher trug sie dies kleine Glück noch bei sich, hatte es ihm wohl auch nicht vollends mitgeben können, weil es schon in ihr leuchtete. Seit Monaten glaubte sie, niemals mehr das Gleichgewicht für einen weiteren Tanz zu finden, den Schwung, die Kraft nach all den Jahren. Doch nun, mit Adams Spiel, brauchte sie nur einmal riesen großen Schwung zu nehmen, um diesen Anfang dem Meer zu übergeben. Glück im Tausch gegen vergangene Schwere. Sie entschied sich tapfer, dass nun der Moment gekommen sei, beides dem Meer zu überantworten.

Aber wahrscheinlich würde das Werfen von Glück und Last genauso unmöglich zu sein, wie das Glück mit jemanden fortzuschicken, es forttragen zu lassen.

Aber zunächst war dieses grobe Etwas von Betonklotz dran. Maria legte erst einmal all ihre Enttäuschung, vergebliches Bitten und Gebet, ihr Entsetzen über unmenschliches Sein tief in diesem ab. Sie formulierte ihre Last nicht präzise aus, eher knetete sie diese kräftig, in scheinbar zu formenden Lehm symbolisch hinein. Sie positionierte den Beton in ihrer Wurfhand. Wie erfrischend der Gedanke war, diesen Stein mit aller Wucht ins Dunkel des Meeres zu werfen. Sie wollte ihn rasch loswerden, mit einem Wurf weit von sich stoßen, richtig kraftvoll schmettern. Es sollte gewaltig werden, donnernd, erschreckend. Sogleich zog sie ihren Mantel aus, um ja gut ausholen zu können. Dann warf sie noch rasch den Schal in den Sand, damit sie auch nicht daran hängen bliebe, lief übertrieben weit landeinwärts, drehte sich um und rannte zur Wasserkante zurück. Währenddessen holte sie rücklings aus und dann aber los. Das war ein Wurf! Der saß. Als der hässliche Stein im Wasser einschlug, war er deutlich hörbar. Ein Erfolg, ein echter Erfolg der Versenkung. Maria stemmte ihre Hände in die Hüfte und war zufrieden.

Erst jetzt bemerkte sie, dass sie die anderen aus dem Blick verloren hatte. Sie waren längst zum Aufbruch bereit. Nach einigen tiefen Atemzügen, ging sie zum Mantel zurück. Doch wo war ihr schöner Stein? Er lag weder auf dem Mantel oben auf noch darunter noch befand er sich in den Seitentaschen. Maria machte ihre Hände in die Hosentaschen, doch auch da kein Stein. Erneut tastete sie alle Eingriffe ihrer Kleidung ab. Dann hob sie den Schal auf, doch auch dort war der schöne Stein nicht zu finden. Die Gruppe war bereits voraus gegangen, Maria suchte weiter. Nun hockte sie sich hin, überflog die umliegende Fläche mit flüchtigem Blick. Dann wurde sie allmählich etwas ruhig und schaute nun ganz sorgfältig die sie umgebenden Quadratmeter ab. Der schöne, der sinnliche Stein war weg. Und mit ihm auch, was sie in den letzten Wochen erlebt hatte und bereit gewesen war, dem Meer zu schenken, zu opfern. Sie wollte doch ihre Sehnsucht loswerden, um ruhig zu werden, wie das Meer an windstillen Tagen.

Stunden später erfuhr sie, dass der schöne Stein gar nicht geworfen, sondern mitgenommen werden sollte. Er durfte bewahrt werden für unbestimmte Zeit.

Maria wusste nun um ihren guten Stein. Sie hatte ihn sorgfältig gesucht, betrachtet und deutlich in ihren Händen gespürt. Offen blieb, ob er später noch gefunden, geworfen oder für immer gehalten wurde oder sich das Meer ihn wieder zurückholte.

Text und Foto von sibyll maschler – März 2019

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