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Andreas Schrock: Annäherung an die Ikonenmalerei

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Zuerst ist die Farbe. Oder die Idee von einer Farbe: Kaffee. Tante G. hatte mir Bilder gezeigt, die während ihrer Reha entstanden. Landschaften in Brauntönen, gemalt mit einer wässrigen Lösung aus gefriergetrocknetem Kaffee. Ich bereite einen, wie ich meine, kräftigen Sud. Doch es funktioniert nicht. Die Striche auf dem Blatt bleiben blass, ohne Kraft.

Also steige ich auf Aquarell und Umbra um. „Umbra“ klingt irgendwie gut. Das Wort stammt aus dem Lateinischen und heißt Schatten. Umbra wird landläufig mit Römischbraun übersetzt. Ich suche eine Vorlage aus dem Netz, dann die Farben in den Näpfchen.

Wie soll das Licht fallen? Ich könnte versuchen, das Gesicht aus sich selbst heraus leuchten zu lassen, wie manche Ikonenmaler es tun. Also ohne Schatten, ohne Tiefe, eben flach. Aber das wäre verrückt! Generationen von Malern haben daran gearbeitet, den Raum (die Perspektive, die Tiefe) auf die Leinwand zu kriegen. Die Welt gewissermaßen auf das Kunstwerk zu erweitern. Nur die Expressionisten waren anders, glaube ich. Und dann soll man einfach Fläche malen?! Andererseits: Wenn man Fläche malte, wäre das auch ein Zeichen. Der (irdische) Raum würde unwichtig, das Blatt würde zur Grenze zwischen Immanenz (Welt) und Transzendenz (dem Dahinterliegenden). Im günstigste Fall spräche es, wie eben ein Kunstwerk spricht. Was es sagt, ist die spannende Frage!

Sollte ich Christus malen? Oder auch Gottvater, den Heiligen Geist, Maria und diverse Heilige, wie in den letzten 500 Jahren üblich? Und wenn schon so viele Heilige, warum nicht auch Menschen wie dich und mich? Gut, dann aber wäre der Heiligenschein im Wege. Ich blättere im Netz, es flüstert aus verschiedenen Ecken: Gold ist Zeichen für Göttliches. Aber Moment mal, ist nicht auch ein Ehering normalerweise aus Gold? Ich entscheide mich für Gold, aber nicht um den Kopf herum, sondern als Fläche dahinter. So, als hinge ein Fließ an der Wand. Dann wäre die Gefahr der Selbstüberhebung gebannt, denn das Göttliche ist im Raum, einfach so.

Eine erste Skizze entsteht. Ich bin nicht besonders zufrieden. Nichts stimmt so richtig. Aber für heute ist es genug. Das Wort Ikone stammt aus dem Griechischen und heißt Abbild. Ikonen können Meditationsbilder sein. Man soll eine Kerze davor aufstellen, heißt es. Im Schein der brennenden Kerze fangen sie an zu leben.

Andreas Schrock

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Isabel Arndt: Sabbattagebuch „Unterwegs“

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Isabel Arndt

I
16.01.20

Es gibt solche Tage. Solche, die ins Licht geboren werden. Die beginnen, wenn es Zeit ist.
Die anderen, die aus der Nacht geschnitten werden, Frühchen von Tagen also, die blass und schwach starten, die im Brutkasten des Morgens liegen – die will ich nicht mehr beginnen noch beenden. Jetzt, jetzt, jetzt kriegen die Tage ein Possessivpronomen, sie heißen: meine.

Noch zwei Monate und ich fahre los. 51 Jahre mit dem Leben verhandelt. Auf Knien, im Dreck, im Sturm. Verträge abgeschlossen, kleinste gemeinsame Nenner gefunden. Je mehr Kompromisse, destokleiner die Zahl. Bin Bruch, immer der Bruch eines Ganzen gewesen. Jetzt werde ich Zähler sein. Die Sache ist gekippt. Die Südhalbkugel wird für mich bald oben sein. Das Ende der Welt, el fin del mundo ein Anfang.

Ich möchte ins Fremde tauchen. Ins Dunkel, ins Unbekannte. Es hat Gesichter, Sprachen, Farben, Gerüche. Es hat Gassen und steinige Aufstiege. Es hat womöglich spitze Zähne. Ich kenne es nicht. Es ist wie das Morgen. Ich möchte es begrüßen. Aufrichtig, freundlich, respektvoll. Möchte das Haus erkunden, das unsere Welt ist. Den Mörtel und die Einschusslöcher.

II
10.03.20

Zwei Wochen noch. Die Spielfigur rückt voran. Mein Zeigefinger reist bunten Linien nach. Das Tablet leuchtet. Ich erkläre etwas, was mit mir nichts zu tun hat. Kap Horn, die Magellan-Straße, Torres del Paine im Lieblingsrestaurant. Warmer Kerzenschein und die ganzen Möglichkeiten füllen den Raum.
Wirklich dort sein wird komplett anders sein, heftigster Wind, mit Schnee ist immer zu rechnen und die Einsamkeit und ich – wir werden Freundschaft schließen müssen.

Jedes Abschiedstreffen bringt neue Ratschläge: was ich mitzunehmen, zu bedenken, zu planen, keinesfalls zu verpassen habe. Es ist fast gar nicht mehr meine Reise. Ich weiß, ihr meint es gut; ich mag euch, alle, die ihr euch sorgt. Einiges wird mich beschützen, anderes Ballast sein – wie unterscheiden? Die Ausrüstung unter die volle Gießkanne halten bringt neue Erkenntnisse. Einiges muss neu besorgt werden. Noch ist ein bisschen Zeit. Sicher ist: ich werde nicht auf alles vorbereitet sein. Muss improvisieren. Muss eine Achillessehne mitnehmen, die vor all dem streikt. Toller Zeitpunkt, wirklich. Ich verlasse Menschen, die ich liebe und liebenswerte welche, die ich grade erst traf.

Das Haus hat noch keinen, den es wärmt, wenn ich weg bin; wir suchen noch immer, das zermürbt. Und was wird dieser Virus noch alles anstellen, welche Grenzen versperren sich – am Ende kann ich nirgendwohin. Und womit? Der perfekte neue Rucksack steht vollgepackt im Wohnzimmer neben all den Sachen, die auch noch mit wollen. Die Gedanken rennen in meinem Kopf kreuz und quer. Die Tagesaufgaben auf Arbeit erledigt grade jemand, der aussieht wie ich, aber gar nicht bei der Sache ist. Ach, sag ich. Dabei wollte ich mich doch freuen.

III
16.03.20

Was tun?
Ein winziger Virus namens Corona tanzt auf meinen großen Plänen herum. Immer mehr Leute werden krank, Leute sterben irgendwo und das irgendwo kommt näher. Die anderen hamstern die Märkte leer, es gibt Handlungsanweisungen zur Handdesinfektion, zur Einschränkung sozialer Kontakte. Aber ein Telefon kann einen doch nicht umarmen.

Immer mehr Grenzen gibt es, allerorten wird zugesperrt. Die Angst oder die Vernunft – wer regiert hier? Ich weiß es nicht mehr. Ich kann doch jetzt nicht mehr an meinen Plänen festhalten – wie verrückt ist das denn? Das Auswärtige Amt sagt „nicht notwendige Reise“. Das Virus könnte auch mich irgendwo befallen und wäre ich dann nicht lieber bei maximaler medizinischer Versorgung hier?

In einer solchen Situation mache ich immer Lose. Das ist natürlich das Unvernünftigste, was man tun kann. Aber ich hab es extra schwer gemacht: von 4 Losen war nur eins dafür, weiterhin und jetzt nach Chile zu wollen. Als ich es zog, wusste ich, dass ich es ziehen wollte.

Ich bin längst nicht mehr hier. Weiß nicht, für wen all diese Mails sind, wovon sie handeln oder was von mir zu erwarten ist. Chilenische Pampa in meinem Kopf, Teppichboden unter den zuckenden Füßen.

IV
17.03.20

Auswärtiges Amt: „Ab Mittwoch, den 18.März 2020 schließt Chile seine Luft-, See- und Landgrenzen für die Einreise von Ausländern.“die zeitfenster sind durchsichtig. auch geschlossen sehe ich noch gelobtes land dahinter. ich habe ein bedrucktes papier namens ticket – ich hätte es nicht opodo, sondern dem schicksal abkaufen sollen.

man kann im eigenen traum ertrinken, mit den armen rudernd als teilte sich dadurch das vierbuchstabige „nein“ in zwei einzelne „ja“, von denen eins reichen würde, hindurchzuschlüpfen. aber das wünschen reicht nicht. und nicht, sich genau zu überlegen, wie alles passen könnte bis alles so schön passt, dass es zu schön ist für die wirklichkeit. träume dürfen das, die können gar nicht schön genug sein. aber wenn die träume mal wirklichkeit sein wollen, wenn die seifenblasen mal nicht blöd bei jedem wind und fremdkontakt platzen wollen, dann … und das heißt dann chance. daraus kann sich ganz was neues entwickeln, ganz was großes und schönes…

Das Personalreferat ist nett. Ich darf mir das nächstes Jahr noch mal wünschen. Das wird toll.

V
29.03.20

Vielleicht hätte der Zug noch funktioniert. Trotz Ausgangssperre. Vielleicht hätte Isabel Arndt am 24.03.20 noch 10:10 Uhr mit diesem Ticket von Dresden nach Frankfurt Flughafen fahren können. Statt dessen läuft sie, laufe ich – woandershin. Laufe – google Maps sagt 14 km – vom kleinen Elbhäuschen den Fluss aufwärts. Schlängle mich mit ihm, bis ich in den Eichhörnchengrund abbiege und dort in der Buschwindröschenstille raste. Die Eichhörnchen sind nicht da, aber ich. Während sich die Gedanken in die Zugpolster gekuschelt haben, die Füße auf den dicken Rucksack gelegt, dösen. Patagonien, endlich, jetzt ist es soweit. Heute Abend der Flug – noch nie so lange geflogen, wie wird das – erst bis Barcelona, dann Santiago de Chile – wie das schon klingt – und nach Punta Arenas der Anschlussflug. Zwei Tage wird das dauern, das wird anstrengend, wir müssen dringend schlafen, sagen die Gedanken, aber können gar nicht vor Aufregung.

Die wieder geöffneten Augen sehen grün. Ein linkselbisches Kerbtal, von Mittagssonne geflutet. Der Rucksack neben mir will weiter, will unbedingt weiter. Ach, der Rucksack ist schwer auf einmal. Die ganze Zeit eigentlich schon, aber jetzt, wo er so erwartungsvoll neben mir steht, so voll mit allem, was man braucht, mehrere Tage in der Steppe zu überleben, jetzt schaffe ich kaum, ihn hochzunehmen. Ich weiß nicht, warum das alles mit mir rumtrage. Ob ich überhaupt hier unterwegs sein sollte. Man soll zu Hause bleiben, Kontakt nur zu einer weiteren Person haben. Kein Flug geht mehr, kein Land hat noch offene Grenzen. Meine Tickets mit zehnstelliger Buchungsnummer bringen mich nirgendwohin. Ich wollte ans Ende der Welt, aber das Ende der Welt ist hierhergekommen. Es braucht nur ein winziges Virus und das Ende alles Vorstellbaren ist gekommen. Ein hübsches Virus übrigens; die Grafiker haben dem gelben Körper rote Krönchen aufgesetzt. Corona also. Es sieht nicht aus, als müsste man davor Angst haben. Ich habe nie wieder Angst haben wollen, ich wollte weit weg ganz allein klarkommen. Und das wäre ich, irgendwie. Aber jetzt soll ich Angst haben, jetzt soll ich vernünftig sein, Kontakte und Reisen vermeiden, wir müssen alle die Amplitude einer Kurve flach halten.Die Infizierten, die Toten sollen beherrschbar bleiben. Was um Himmels Willen ist hier los??

Weiter! Ich kann hier nicht bleiben. Nicht, wenn mein Flug in ein paar Stunden geht, nicht, wenn ich alle Schritte der nächsten Tage schon tausendmal gegangen bin. Gehen. Gehen ist Nicht-Bleiben. Das ist das Einzige, was aushaltbar ist jetzt. Es gibt einen Ort, es gibt genau einen Ort, an den ich jetzt möchte. Dort – ja, ich weiß, die Mutter seiner Kinder hat ihm, da Kontakt zu mir – 14 Tage in Quarantäne geschickt und jetzt komm ich, die Quarantäne mit ihm zu teilen, das ist so verboten, wie es schräg ist. Ich darf bleiben, aber auf keinen Fall zu nah. Das ist ok, so wie alles derzeit ok ist, was gar nicht ok ist. Die Nächte sind frostig. Wir haben den Aprikosenbaum in zwei weiße Laken gehüllt; der Scheinwerfer drunter leuchtet nachts Wärme, er leuchtet; eine weiße Fahne, wir haben kapituliert. Die Tage in reinstem Frühlingsblau, ahnungslos. Aus den Lautsprechern die neusten Zahlen, während ich die Katze kraule, während ich Erdbeerpflanzen umsetze. Finde ein Schild mit der Sorte „Korona“. Hämmere, hämmere mit dem alten Klüpfel, mit den alten Beiteln auf wurmstichiges Feuerholz ein, bis es mir sagt, was es eigentlich ist. Ich will dringend wissen, was es eigentlich ist, das alles.

Als er nicht sagte, bleib, ging ich. Ging ich den ganzen Weg zurück, um zu gehen. Unterwegs nach Patagonien. Ein Freund rief an, wir könnten. Könnten biwakieren an einem See, biwakieren ginge immer. Und zwei geht auch. Also ging der Rucksack wieder auf die Reise. Schöne Seen haben sie da in Patagonien. Wie die Kiesgruben bei uns. Sandige Ränder mit Birken. Rohrkolben, denen die Zeit weggeweht ist. Trübes Wasser, kalt. Trockenes Holz mit Birkenrinde und Feuerstahl leuchtet warm in unseren Gesichtern. Erstaunlich windstill in Patagonien.

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Brief einer Schwester an ihren großen Bruder

Andreas Schrock

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Liebes Bruderherz!

Bitte entschuldige die fahrige Schrift, ich habe seit dem Morgen nichts gegessen und ich habe seit dem Morgen nichts getrunken. Ich habe kein Gefühl in meinem Unterleib, in meinem Bauch. Es ist, als hätte ich nicht einmal einen Magen. Aber in meinem Mund, da brennt es, die Lippen sind mir zersprungen, die Zunge klebt am Gaumen. Dieser Durst, er fährt mir nicht in den Hals, sondern in die Hand und ich muss Dir schreiben, immerfort schreiben.

Wir hatten Besuch, Tantchen und Onkelchen, und ihr Junge, fast erwachsen, wie ich. Wir wurden spazieren geschickt, die Alten hätten etwas zu besprechen, hieß es. Wir gingen also in den Wald, den Weg zwischen den Kiefern suchend, und ich spürte die ganze Zeit seine Nähe, seine Unruhe, sein Erwachen. Wir redeten und gingen und ein leichter Wind ging mit uns. Und dann fuhr er mir mit der Hand unters Hemd, ich kann es nicht erklären, er fuhr also unter den Stoff, so dass ich am ganzen Körper zu zittern begann. Es erregte mich, aber es war der Wind, der mich erregte, der Wind, der mir unters Hemd kroch, verstehst Du?

Mein lieber großer Bruder, warum bist Du nicht gekommen, hinter einem Baum hervor. Warum hast Du mich nicht weggeführt, an einen warmen, sicheren Ort. Dieser Wind macht alles unberechenbar, er weht wo er will, so heißt es doch in der Schrift, nicht wahr? Du bist so fern, Du bist seit Jahren so fern, Du bist ja auf Walz, ich weiß es, ich weiß es doch, Mutter hat es oft genug erzählt und Vater hat oft genug geschwiegen und immer durch das Fenster geschaut. Drei Jahre muss sie gehen, diese Walz, sagt man und wenn Vater durch das Fenster schaut, murmelt er manchmal vor sich hin: drei Jahre! Wieviel ist das? Und was erlebst Du, was erleidest Du?

Er fuhr mir also unters Hemd, da, im Kiefernwald, bei den Föhren, nahe der Schonung und ich war so verwirrt, dass ich gar nichts denken konnte. Meine Füße standen auf dem Waldboden, sie wollten fortlaufen, nach Hause. Aber meine Füße hingen fest im Moss und mein Leib bog sich ihm entgegen, ich hatte meinen Körper nicht im Griff. Meine Füße trippelten gewissermaßen schon und doch, meine Haut war gespannt vor Erwartung, ich schwitzte aus jeder Pore, selbst unter den Achselhöhlen. Und über all dem steht nun mein Kopf, meine Lippen, die brennenden Lippen.

Du bist so fern, lieber Bruder, dabei hängt sich meine ganze Seele an Dich, an Dich allein. Ja, meine Seele ist flatterhaft, ich gebe es zu. Die Leute spotten über Dich, wusstest Du das? Sie sagen: Ach, der! Der ist nach Norden gegangen! Dabei bist Du doch nach Süden gewandert, wir haben uns doch verabschiedet, am hellen Vormittag und Dein Schatten ging hinter Dir her, und nicht vor Dir hin. Du wandertest nach Süden, aber die Leute tuscheln böse, Du seiest nach Norden gegangen. Du seiest bestimmt schon in Lappland, sagen sie und seiest dort sesshaft geworden. Du wohntest dort in einem lappländischen Haus, mit einem lappländischen Weib, sagen sie. Jung und zart sei dieses Weib und werde bald ein kleines, lappländisches Baby zur Welt bringen! O, diese Heuchler! Sie sagen es, um mich eifersüchtig zu machen! Aber ich bin nicht eifersüchtig, nein, überhaupt nicht!

Er fuhr mir unters Hemd, ich muss mich jetzt selbst daran erinnern, der Durst lässt langsam nach, obwohl ich doch gar nichts getrunken habe. Aber er wollte mehr, viel mehr. Er wollte die Hemden tauschen, sein Hemd gegen meins. Hemd gegen Bluse. Baumwolle gegen Seide. Karos gegen Blümchen. Linksknöpfung gegen Rechtsknöpfung. Junge gegen Mädchen. Schweiß gegen Schweiß. Und, ja, das war nun wirklich ein bisschen fett. Das ging ja nun gar nicht. Und ich lief los, über das Moos, aber er hatte mich nach wenigen Schritten eingeholt und einfach, einfach…

Ach, was ist das mit den Männern, in den lauen Maiennächten, wenn sie am Feuer sitzen. Ich höre ihre Lieder, ich höre ihre Stimmen, ihre überheblichen Stimmen und ich sehe ihre Umrisse gegen den hellen Schein des Feuers. Beim nächsten Mal werde ich einen Scherenschnitt fertigen, jawohl, einen Scherenschnitt. Da habt ihr’s, werde ich sagen, so seid ihr! Eure Lieder klingen fremd und machmal auch grässlich, werde ich sagen. Und je länger der Abend fortschreitet, umso lauter werdet ihr, werde ich sagen. Doch weißt Du, mein großer Bruder, weißt Du, zu guter Letzt, wenn das Feuer heruntergebrannt, werden die Männer ganz still, so still, dass es einem das Herz bricht. Und einer von ihnen hebt dann an zu einer alten Weise, die von den Vätern erzählt, und von den Großvätern. Merkwürdig, Männer erinnern sich immer an Männer.

Er hat also sein Hemd getauscht, gegen meins, kaum wusste ich, was geschah und ich kann auch jetzt nicht sagen, was geschah. Ich habe keine Worte dafür, keine Worte für das Stehen, da, mitten im Wald. Keine Worte für das Befinden, dass man hat, wenn man so schutzlos an der frischen Luft steht, im Blick des anderen. Jetzt bog sich mein Körper in sich selbst, er wollte sich zusammenrollen wie ein Igel, aber es ging nicht. Ich stand da, mitten im Wald und wollte weinen, aber es ging nicht. Nur ein schwacher Laut aus der Kehle kam heraus, wir ein verirrter Vogel. Es ging dann auch schnell, ich trug auf einmal ein großes Holzfällerhemd an meinem Körper, es hing von allen Seiten herab und dann gingen wir weiter, er und ich. Er wollte meine Hand nehmen, aber ich zog sie weg und presste sie fest an mich.

Weißt Du, Bruder, höre genau zu, ich hatte einen Traum: ich träumte, das Bier der Männer sei mir fremd. darin sie sich ersäufen. Und auch ihre Kriege seien mir fremd, darin sie sich erschlagen. Und ihre Mädchen seien mir fremd, darin sie sich ergießen. All’ das hab ich nicht, um meinen Schmerz abzuleiten, meine Selbstzweifel, meine Gefühle. Ach, dürfte ich Dich lieben. Könnte sich doch meine ganze Seele an Dich hängen. Aber die Leute verhöhnten mich, gestände ich ihnen, wie sehr mein Herz an einer Geschwisterliebe hängt!

Und nun presste ich also, da im Wald, die Hand an mich, aber ach, was sage ich, an das blöde Holzfällerhemd presste ich meine Hand, da war ich also wieder bei ihm, obwohl ich doch gar nicht wollte. Und, es ist ja auch unlogisch, ich weiß, wer das Hemd eines Mannes trägt, kann erst Recht seine Hand nehmen. Und wer seine Hand nimmt, kann auch seine Lippen nehmen. Und wer seine Lippen nimmt, kann auch sein Bett nehmen. Und wer sein Bett nimmt, kann auch den Tisch mit ihm teilen. Obwohl es umgekehrt sein sollte, aber das ist das Verhängnis der Zeit. Es ging nicht, es war so fremd, so fremd an meinem Leib. Es war so still, da im Wald, kein Laut, die letzte Amsel war schon vor Stunden mit einem Tok-Tok verschwunden. Auch die Sonne war vergangen, hinter den Wolken, fast war es wie vor einem großen Regen.

Die Liebe zu Dir, mein Bruder, ist mir näher. Und würde ich sie öffentlich bekennen, wer weiß, was passieren würde. Vielleicht würde ich fester dadurch. Vielleicht würde mein Rücken gerader, meine Haltung aufrechter, meine Brüste fester, mein Tritt sicherer, mein Blick kecker, mein Mund fröhlicher, meine Gedanken heller. Es ist so dunkel um mich. Oder nein, eher diffus grau, ein Nebel, aber kein Nebel, der wach und aufmerksam macht, so dass man das Knacken eines Zweiges schon auf hundert Meter genau hört. Eher ein Nebel voller Schlingen, wabernd, ein Nebel wie ein Wollknäuel, so dass ich plötzlich ein kleines Mädchen bin, ein winzig kleines Mädchen, mitten drin in dieser Aussparung, in dieser Öffnung Welt. Ich ertrinke, Bruderherz und darf Dir meine Liebe nicht gestehen.

Doch der Nachmittag war noch nicht zu Ende, da im Kiefernwald, auch wenn wir uns heimwärts bewegten. Er wollte mich nehmen, ich spürte es deutlich, ich war so unruhig, alles zitterte in mir, ich wusste nicht, wohin und hatte kein Zentrum, verstehst Du? Nicht, dass ich mich verweigern wollte, aber es war so…so ohne Ort, ohne Mitte. Es war alles voller Ränder um mich, ja, ich lief auf einem Rand entlang, auf dem Rand einer riesigen Sahneteorte, wo die Füße ins Süße sinken und man genau weiß, dass man im nächsten Moment abrutscht. Oder nein, dieser Rand war noch mehr, viel mehr, er war der Rand der Welt und ich, ich drohte aus der Welt zu fallen.

Die Schwermut hat mich gepackt und sie rüttelt und schüttelt mich. Ich weiß nicht, woher sie kommt. Viel weniger aber weiß ich, wohin sie geht. Ja, wohin geht sie denn? Weißt Du es? Und wenn Du es wüsstest, würdest Du es mir sagen? Ich möchte mich mit Dir verloben, mein Bruderherz, aber das ist ja komplett verrückt, damit bin ich ja praktisch reif für das Irrenhaus! Aber ich bin nicht irre an Dir. Ich mag Dich und ich schütze Dich, obwohl ich nur Deine kleine Schwester bin. Ich bin irre an der Welt. Die Welt ist es, die mich packt, die mich rüttelt und schüttelt. Und die Schwermut ist ihr Ausdruck. Freilich muss man an der Welt nicht irre werden, viele leben recht gut in ihr, die allermeisten sogar, aber diese Welt erwischt so einen Punkt in mir, einen schwachen Punkt.

Wir hatten inzwischen den Waldweg erreicht, hier war mir wohler, ich sah ihn von der Seite an und musste kichern. Da ging er also, mit einem Hemd voller Blümchenmuster, das sich unter seiner starken Schulter spannte. Er war stolz auf dieses Blümchenmuster, ich sah es ihm an und für diesen einen Moment verstand ich ihn. Ich kicherte also, er drehte sich zu mir und wirkte in diesem Moment so unsicher, so offen. Da gab ich ihm einen Kuss auf die Wange und lachte und lief vor ihm hin und er musste auch lachen und lief hinter mir her. Aber er packte mich nicht mehr, er berührte nur sacht meinen Arm und ich versprach ihm Freundschaft. Er schwieg dazu und deshalb wiederholte ich mein Versprechen, das Versprechen einer Freundschaft. Und jetzt bindet es mich, es bindet mich an die Welt und ich drohe einmal weniger von ihrem Rand zu fallen. Wir tauschten unsere Hemden zurück. Als ich das Holzfällerhemd aufknöpfte, drehte er sich zur Seite.

Liebes Bruderherz, jetzt ist mir besser, danke, dass ich Dir das schreiben konnte. Die Leute sind grässlich, nicht nur, dass sie behaupten, Du seiest nach Norden gegangen, statt nach Süden. Manche behaupten, Du seiest längst gestorben. Und andere sagen, es habe Dich überhaupt nie gegeben. Aber ich weiß, dass es Dich gibt, da draußen. Immer, wenn ich Dich so aus der Ferne bitte, spüre ich, wie mir die Last leichter wird, und wie die Lust in mir an Behutsamkeit und an Farbe gewinnt. Bruder, vergiss mich nicht. Und wenn Du heimkommst, erzähl mir, was Du erlebt hast. Alles, wirklich alles, ja? Ich freue mich schon! Ich werde Dich drücken und herzen. Erzähle all’ die wundersamen Geschichten, alle. Und ich, ich werde Dir glauben.

Andreas Schrock/Senftenberg, Januar 2014, letzte Bearbeitung Dresden Febr. 2014

Die Kunsthändlerin

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Wissen ‚Se, das muss aufhören. Es muss aufhören mit dem Zählen.
Das sind Künstler, mit dem Glas, die aus Böhmen, schauen `Se,
der Engel in Orange, ich liebe Engel,
welcher Engel, bittschön, trägt denn von Oben bis unten Orange.
Wissen `Se, wie auffällig das ist? Sie gehen etwa einkaufen,
und dieser Engel folgt ihnen, schweigend, in Orange, etwas versetzt,
sagen wir, einen halben Meter. Das geht doch gar nicht.

Ich liebe den Engel. Er ist immer da, in der Vitrine, keiner kauft ihn, also bleibt er im Geschäft. Er ist aus Glas, aber
er trägt etwas in sich, was man nicht sieht, jedenfalls nicht gleich.
Er ist ja Geschöpf, und der Schöpfer ist ein Tscheche, den ich liebe,
oder Gott, mit dem ich streite, keine Ahnung, wissen `Se,
aber jetzt muss es aufhören mit dem Zählen.

Die Künstler bitten mich. Mach weiter, sagen sie,
du bist Kunsthändlerin, wir brauchen dich. Die Galerien
machen ja zu, eine nach der anderen, machen sie zu.
Aber jetzt geht es nicht mehr, es muss aufhören mit dem Geld,
mein Lebtag hab ich gezählt, hab ich gehungert,
nach Beziehungen, wissen ´Se.
Ach, Sie sind jung, und ich bin eine alte Schachtel. Bitte schön,
bin ich eben eine Schachtel. Aber zählen will ich nicht mehr.

Wissen `S, das Zählen ist ja ein Versprechen, das was mehr wird,
dass man satt wird, unterm Apfelbaum liegen kann. Ich liebe den Engel aus Böhmen, den Verrückten.

Der versteht mich nicht mal, als Böhme, wie soll er auch,
aber ich verstehe ihn, wissen`S. Er schweigt. Und das ist mein Glück.
Er ist einfach da, wenn ich jetzt aufhöre mit Zählen.

Ich bitte Sie, ich danke Ihnen, leben Sie wohl, zählen Sie.
Zählen Sie ihre Lieben, und achten sie auf sie. Zählen Sie ihre Frauen, ihre Kinder, und verzählen Sie sich nicht, bittschön.
Zählen Sie Ihre Brüder oder Schwestern. Zählen Sie die Tage bis zum ersten Schnee, zählen Sie die Abende, ihre Geheimnisse.

Aber denken Sie dran, irgendwann gibt es von allem nur eins: ein Leben, eine Liebe, ein Schweigen und ein Hören, ein Wort. Eine Mark und ein Totenhemd.

Eine alte Schachtel bin ich, bittschön, nehmen ‚S nicht krumm, gell?
Es gibt nur diesen Engel, nehmen ’S, nehmen Sie, bitte schön.
Ich kann eins und eins zusammenzählen, aber
Sie werden ihn brauchen, den Minister in Orange.
Er ist gläsern und etwas scheint durch.

Leben Sie.
Leben Sie
wohl.

Andreas Schrock, März 2019 Dresden

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