Categotry Archives: Betrachtungen

Andreas Schrock: Annäherung an die Ikonenmalerei

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Zuerst ist die Farbe. Oder die Idee von einer Farbe: Kaffee. Tante G. hatte mir Bilder gezeigt, die während ihrer Reha entstanden. Landschaften in Brauntönen, gemalt mit einer wässrigen Lösung aus gefriergetrocknetem Kaffee. Ich bereite einen, wie ich meine, kräftigen Sud. Doch es funktioniert nicht. Die Striche auf dem Blatt bleiben blass, ohne Kraft.

Also steige ich auf Aquarell und Umbra um. „Umbra“ klingt irgendwie gut. Das Wort stammt aus dem Lateinischen und heißt Schatten. Umbra wird landläufig mit Römischbraun übersetzt. Ich suche eine Vorlage aus dem Netz, dann die Farben in den Näpfchen.

Wie soll das Licht fallen? Ich könnte versuchen, das Gesicht aus sich selbst heraus leuchten zu lassen, wie manche Ikonenmaler es tun. Also ohne Schatten, ohne Tiefe, eben flach. Aber das wäre verrückt! Generationen von Malern haben daran gearbeitet, den Raum (die Perspektive, die Tiefe) auf die Leinwand zu kriegen. Die Welt gewissermaßen auf das Kunstwerk zu erweitern. Nur die Expressionisten waren anders, glaube ich. Und dann soll man einfach Fläche malen?! Andererseits: Wenn man Fläche malte, wäre das auch ein Zeichen. Der (irdische) Raum würde unwichtig, das Blatt würde zur Grenze zwischen Immanenz (Welt) und Transzendenz (dem Dahinterliegenden). Im günstigste Fall spräche es, wie eben ein Kunstwerk spricht. Was es sagt, ist die spannende Frage!

Sollte ich Christus malen? Oder auch Gottvater, den Heiligen Geist, Maria und diverse Heilige, wie in den letzten 500 Jahren üblich? Und wenn schon so viele Heilige, warum nicht auch Menschen wie dich und mich? Gut, dann aber wäre der Heiligenschein im Wege. Ich blättere im Netz, es flüstert aus verschiedenen Ecken: Gold ist Zeichen für Göttliches. Aber Moment mal, ist nicht auch ein Ehering normalerweise aus Gold? Ich entscheide mich für Gold, aber nicht um den Kopf herum, sondern als Fläche dahinter. So, als hinge ein Fließ an der Wand. Dann wäre die Gefahr der Selbstüberhebung gebannt, denn das Göttliche ist im Raum, einfach so.

Eine erste Skizze entsteht. Ich bin nicht besonders zufrieden. Nichts stimmt so richtig. Aber für heute ist es genug. Das Wort Ikone stammt aus dem Griechischen und heißt Abbild. Ikonen können Meditationsbilder sein. Man soll eine Kerze davor aufstellen, heißt es. Im Schein der brennenden Kerze fangen sie an zu leben.

Andreas Schrock

200 Jahre fröhlicher Freitod? – Kleiner Vorgriff auf den 200. Todestag Heinrich von Kleist’s im Jahr 2011

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Kleists letzter Brief an seine Schwägerin Marie von Kleist, Stimmings Krug bei Potsdam, 21. November 1811:

 

„Meine liebste Marie, wenn Du wüßtest, wie der Tod und die Liebe sich abwechseln, um diese letzten Augenblick meines Lebens mit Blumen, himmlischen und irdischen, zu bekränzen, gewiß Du würdest mich gern sterben lassen. Ach, ich versichre Dich, ich bin ganz selig. Morgens und abends knie ich nieder, was ich nie gekonnt habe, und bete zu Gott; ich kann ihm mein Leben, das allerqualvollste, das je ein Mensch geführt hat, jetzo danken, weil er es mir durch den herrlichsten und wollüstigsten Tode vergütigt … Ach, ich versichre Dich, ich habe Dich so lieb, Du bist mir so überaus teuer und wert, daß ich kaum sagen kann, ich liebe diese liebe vergötterte Freundin mehr als Dich (Anm.: Henriette Vogel, 31 Jahre alt und unheilbar an Gebärmutterkrebs erkrankt[1]).  Der Entschluß, der in ihrer Seele aufging, mit mir zu sterben, zog mich, ich kann Dir nicht sagen, mit welcher unaussprechlichen und unwiderstehlichen Gewalt, an ihre Brust; erinnerst Du Dich wohl, daß ich Dich mehrmals gefragt habe, ob Du mit mir sterben willst? – Aber Du sagtest immer nein – … Ach, meine teure Freundin, möchte Dich Gott bald abrufen in jene bessere Welt, wo wir uns alle, mit der Liebe der Engel, einander werden ans Herz drücken können. – Adieu“

 Erstmals stoße ich 2007 auf den Namen Heinrich von Kleist (1777-1811). Über eine Buchspende erhalte ich H. von Kleists sämtliche Werke, vierter Band, Stuttgart, ohne Jahr und in Frakturschrift. Ich nehme das Buch in den einige Kilometer entfernten Garten und beginne dort mangels anderer verfügbarer Literatur zu lesen. Die Anektdoten gefallen mir auf Anhieb, weil ich das Gefühl habe, sie zu verstehen. Es klingt vielleicht kindisch, albern, überholt, doch die Werke der Klassiker ringen mir immer noch einen Respekt ab, der zu einer gewissen Distanz führt.  Doch Kleists Anekdoten aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges sind irgendwie anders: kurz und knapp, auf den Punkt gebracht eben, ohne sichtbare Wertung, oder, um es in einem modernen Slogan auszudrücken: sie enthalten Fakten, Fakten, Fakten. Das ist Journalismus in der ursprünglichsten Form. Egon Erwin Kisch hätte es nicht anders gemacht. Das ist mir sympathisch, heute noch, weil ich das Gefühl habe, relativ dicht an den Quellen zu sein. Vor aller literarischen Arbeit steht ja das Beobachten, das Registrieren, die Sensibilität für innere und äußere Ereignisse. Ich weiß noch nichts von Kleistens Freitod, nichts davon, dass er sich in den Mund schoss, ich sehe nur seine Anekdoten aus dem Siebenjährigen Krieg.

Zugegeben, Kleist war nicht in diesem Krieg gewesen, ich schaue im Lexikon nach, er ist also 14 Jahre nach Ende des Krieges geboren. Das heißt aber auch, dass Kleistens Elterngeneration in den Krieg involviert war, heißt also, er hat Zeitzeugen getroffen, ihre Erlebnisse notiert und verdichtet. Kleist wollte, so scheint es mir beim Lesen der Anekdoten, wohl selbst so dicht wie möglich an die Ereignisse heran. Alle Wertung, die man bei Zeitzeugen oder ihren Scriptoren zuweilen trifft, die nachträgliche Einordnung des Geschehens in den Rückblick also, finde ich in den Kleist’schen Anekdoten eher selten. Kleist hat extrahiert, er hat sich an die Zeit gehalten und alles Schwankende der Zeugen fortgelassen.

 

Aus den Vernehmungsprotokollen des Hoffiskals Felgentreu, Richter zu Heinersdorf, Stimmings Krug bei Potsdam, 22. November 1811

 

Gastwirt Johann Friedrich Stimming: „Es kamen am Mittwoch, den 20. nachmittags zwischen 2 u. 3 Uhr zwei mir unbekannte Personen, ein Herr und eine Dame, mit einem Lohnkutscher von Berlin gefahren und stiegen in meinem Gasthofe ab. Auf ihr Verlangen mußten ihnen zwei Zimmer im obern Stockwerk des Hauses eingerichtet werden. Sie bestellten Kaffee, erhielten solchen und gingen beide, nachdem sie ihn verzehrt, gemeinschaftlich aus, anscheinend spazieren….(Anm.: weiter mit dem 21. um 3 Uhr nachmittags) Sie gingen hiernächst abermals fort und hinterließen, daß ihnen der Kaffee nachgebracht werden sollte. Meine Ehefrau wunderte sich hierüber, daß die Herrschaften an einem kalten Wintertage den Kaffee im Freien verzehren wollten, wir hatten indes nichts Arges und schickten die Ehefrau des Tageslöhners Riebisch hinter ihnen her, indem wir sie noch vom Hause aus am See sehen konnten, wo beide herumsprangen und Steine in das Wasser warfen.“

 

In der Stadtbibliothek Rheinsberg fällt mir 2008 erneut ein Kleist’sches Buch in die Hände: Heinrich von Kleist – ein Lesebuch für unsere Zeit. Ich glaube, es war aus den 50er Jahren, das Papier fühlte sich so anders an als etwa in Büchern der 80er Jahre. Gleichwohl ist das erwähnte Buch wieder und wieder verlegt worden. Ich finde es heute in der Stadtbibliothek Dresden wieder, in der 10. Auflage von 1986. In Rheinsberg lese ich Michael Kohlhaas (aber das ist eine Geschichte für sich) und ich lese in einem weiteren Büchlein (dessen Titel ich nicht notiert habe) über die Umstände seines Todes am kleinen Wannsee. Hier lese ich auch von der Grabstätte, die man heute noch besuchen kann.  Ich bin erstaunt, wie fröhlich und sorglos man mit 34 Jahren in den Tod gehen kann. Ich verstehe es nicht, wer sitzt vor seinem Tode im Campingstuhl, lässt sich noch ein Tässchen Kaffee kommen, lacht und scherzt, atmet Wind, hört Wellen schlagen, sieht den Kreisen zu, den die ins Wasser geworfenen Steine erzeugen und lässt den Blick in die Weite schweifen? Und haut dann ab aus diesem Leben?! Trotzdem komme ich nicht weg von dieser Geschichte, ich weiß nicht, warum.

 

Tagelöhner Johann Friedrich Riebisch: „So habe ich die beiden Fremden, welche sich am 21. November hier erschossen, gleich nach ihrer Ankunft hierselbst gesehen. Hiernächst habe ich weiter von ihnen nichts gehört, als am 21. November nachmittags in der 4. Stunde, wo sie mir auf der Chaussee begegneten. Ich kam eben mit einer Karre Mist und ruhte mich aus, als der fremde Herr und die Dame mir ebendaselbst entgegenkamen. Der erste forderte mich auf, die Karre aus dem Wege zu ziehen, damit die Dame passieren könnte, und versprach und gab mir dafür 1 Groschen. Ich hatte kaum die Brücke passiert, als meine Ehefrau kam und sagte: „Stelle dir doch die Tollheit vor, die beiden Menschen wollen dort oben Kaffee trinken!“. Sie trug nämlich den Kaffe bei sich. Kurze Zeit darauf rief mich meine Frau und forderte mich auf, ihr Tische und Stühle nach dem See tragen zu helfen, welche die beiden Fremden verlangt hätten. Auf den am Wannsee befindlichen Hügel fanden wir beide Fremde stehend. Sie hatten den Kaffee schon bis auf eine Tasse ausgetrunken, welche die Mannsperson sich soeben in meiner Gegenwart einschenkte und einen in einer Flasche befindlichen Rest Rum hinzugoß… Indem wir uns entfernten und nach Hause gingen, sahen wir beide Fremden Hand in Hand den Berg hinunter nach dem See zu springen, schäkernd und sich jagend, als wenn sie Zeck spielten. Sie nannten sich beständig Kindchen, liebes Kindchen und waren außerordentlich vergnügt.“

 

Ich will nichts von Kleist wissen, aber 2009 taucht der Name wieder auf. Ich lese Texte und Zeichen: Deutsche Literaturgeschichte, erschienen bei Cornelsen in Berlin 1995. Ein Schulbuch für den Deutschunterricht, das mir Lars geliehen hat. Ein tolles Buch, gut verständlich, ein gutes Schulbuch mit Grundlagenwissen eben. Die Chronologie beginnt bei den alten Germanen an und endet 1990, mit dem Ende der DDR-Literatur. Irgendwann, mittendrin sozusagen, nach Schiller und Goethe, kommt das Kapitel: Außenseiter: Jean Paul, Hölderlin, Kleist. Da ist er also wieder und mir fällt ein, dass mir in den Weiten der Bücherregale in meiner Wohnung unlängst ein hierzu passendes Buch von Stefan Zweig in die Hände gefallen ist: Der Kampf mit dem Dämon: Hölderlin, Kleist, Nietzsche, erschienen 1988 bei Kiepenheuer in Leipzig. Ich lese erneut über die Umstände seines Freitodes, diesmal in der Zweig’schen Analyse von 1925  und finde Erklärungen: „…seine Tragik ist nicht, daß er wie die meisten Menschen von dem einen zuviel und von dem andern zuwenig hatte, sondern er hatte von beidem zuviel: zuviel Geist bei zuviel Blut, zuviel Sittlichkeit bei zuviel Leidenschaft, zuviel Zucht bei zuviel Zügellosigkeit.“ Zweig beschreibt diesen Widerspruch an vielen einzelnen Beispielen im Leben Kleists. Er findet immer neue Bilder, um dasselbe Problem zu beschreiben, rund 60 Seiten lang. Zum Schluss schildert er den Freitod Kleistens so fröhlich und ausgelassen, mit so bunten Bildern, dass ich eine Art kontemplative Lust verspüre, dem nachzufolgen.

 Dabei hat sich Stefan Zweig selbst das Leben genommen, 17 Jahre später, 1942, im sicheren Exil, zusammen mit seiner stark depressiven (zweiten) Frau. Zweig, lese ich im Lexikon, nahm Veronal, ein Schlafmittel, dass seit 1903 auf dem Markt war und auch als Suizidmittel galt. Zweigs Selbstmord hatte damals Unverständnis ausgelöst, da es ihm im in seiner Wahlheimat Brasilien an nichts mangelte. Ist er, so frage ich mich, seinem eigenen literarischen Werk erlegen? Aber er hat doch auch mit leiser, feiner  Kritik an Kleistens Freitod nicht gespart! Er ist in die Gründe und Abgründe des Dichters hinabgestiegen, er hat sie durchwandert und ist tatsächlich am anderen Ende wieder aufgetaucht, als gefeierter Schriftsteller! Zweig hat den Freitod Kleistens haarscharf analysiert, er hat alles gewusst. Hat er es, wenn man so will, wider besseren Wissens selbst getan?

  

Ehefrau des Tagelöhners Riebisch: „Ich ging nun zurück (Anm.: nachdem sie wegen eines verlangten Bleistiftes noch einmal bei Heinrich von Kleist und Henriette Vogel gewesen war) und hatte eben wieder die Chaussee betreten, als ich einen Schuß fallen hörte. Ich glaubte, daß die Fremden vielleicht mit einem Schießgewehr, so ich indes vorher gar nicht bemerkt, Scherz treiben, und ging daher, ohne mich umzusehen, meines Weges. Nachdem ich ungefähr 50 Schritt gegangen war, hörte ich einen zweiten Schuß, wobei ich mir jedoch ebensowenig etwas Böses dachte. Als ich die Tasse hier im Gasthofe gereinigt hatte, ging ich zurück und wollte eben den kleinen Hügel hinaufgehen, als ich die Dame auf demselben leichenblaß, auf dem Rücken liegend, erblickte. Auf das heftigste erschreckt, rannte ich sogleich, ohne hinaufzugehen oder weiter hinzublicken, nach meinem Hause, sagte nun, was ich gesehen und erzählte den Vorfall meinem Ehemann.“

  

Stefan Zweig und Heinrich von Kleist stehen mit ihrem Freitod nicht allein. Ich lege eine Liste mit Namen an, einen Notizzettel. In der Kantine des Hauses, in dem ich arbeite, treffe ich einen Kollegen der Kulturredaktion. Der Kollege hilft bereitwillig, mit ernsten, tiefhängenden Augen. Der Notizzettel füllt sich. Wladimir Majakowski (erschoss sich), Kurt Tucholsky (nahm im schwedischen Exil eine Überdosis Schlaftabletten), Jochen Klepper mit Familie (Gas, nicht in Auschwitz, sondern in seiner Wohnung in Berlin), Ernst Toller (nahm in seinem New Yorker Exil den Strick), Klaus Mann (Schlaftabletten), Georg Trakl (Kokain). Im Nachgang erst fällt mir unser Zirkelleiter Heinz Vieweg ein, über den zu reden, eigentlich an der Zeit wäre.

Hermann Hesse, sagt mir der Kollege, sei auch ein Kandidat gewesen. Er habe in seiner Jugend einen Selbstmordversuch unternommen, sei dann aber uralt geworden. Über den Tod von Ingeborg Bachmann sind wir uns nicht einig. Mein Kollege meint, sie sei mit Steinen in der Tasche ins Wasser gegangen. Mir dagegen ist, als sei sie 1974 in ihrem Bett verbrannt. Wir können die Frage in der Kantine nicht klären. Inzwischen wird der Kaffee kalt und schmeckt nicht mehr. Im Hinausgehen wirft mir der Kollege noch einen Namen zu, der mir dann aber entfallen ist. Ja, sagt der Kollege, der Mann habe zwar nur „gesoffen“, aber eigentlich habe er sich „dotgesoffen“. Den solle ich ruhig mit auf die Liste nehmen.

Bin ich unhöflich? Ist die Betrachtung makaber, ungebührlich? Störung der Totenruhe?

Was ist Tragik? Der tragische Konflikt, so jedenfalls mein reaktiviertes Schulwissen,

besteht in einer Entscheidungssituation, die in jedem Falle zu Ungunsten des Helden ausgeht. So bei Wilhelm Tell von Friedrich Schiller: Tell wird vom Landvogt gezwungen, einen Apfel vom Kopf seines eigenen Sohnes zu schießen. Tut er es, winkt ihnen beiden die Freiheit. Tut er es nicht, so die Ankündigung, werden beide mit dem Tode bestraft. Also: schießt Tell nicht, stirbt sein Sohn. Schießt er, so stirbt sein möglicherweise Sohn auch. Selbst wenn sein Sohn überlebt, nimmt er dessen Tod billigend in Kauf. Tell tötet innerlich, indem er anlegt. Der Sohn stirbt innerlich in diesem Moment.

Was auch immer Wilhelm Tell tut, er macht sich schuldig.  Wie auch immer er sich entscheidet, er entscheidet sich falsch. Das Scheitern des Helden ist vorprogrammiert. Er hat keine Freiheit der Entscheidung. Das ist Tragik.

Tragik macht einen Konflikt groß und gewaltig. Im Wind weht dann nicht selten der Mantel der Geschichte. Tragik vermittelt Bedeutung und wer nur beharrlich genug  den Ursachen für das tragische Scheitern eines Helden nachforscht, wird mit einem tiefen, inneren Verständnis für die schwierige, ausweglose Situation belohnt.

Nur unser Held wird damit nicht gerettet.  In der Schule, schon in der 11. oder 12. Klasse gab es in einer Pause eine, aus meiner heutigen Sicht unsinnige Frage: Wenn dein Freund aus dem Fenster in den Tod springen will, lässt du ihm die Freiheit der Entscheidung? Oder hältst du ihn gegen seinen Willen fest?  Natürlich hätte ich festhalten wollen. Aber so einfach war es nicht, da die Frage gleich in einem zweifachen Kontext stand: Zum einen gab es zu der Zeit, Anfang der 80er Jahre, in meinem Freundeskreis eine unterschwellige Diskussion, die ich heute mit „Freiheit im Sozialismus“ umschreiben würde, auch wenn diese Wort selbst nicht auftauchten. Unsere grundsätzliche Haltung hatte zur Folge, dass Toleranz und Freiheit eine große Bedeutung hatten und einen Wert an sich darstellten. Wer den Freund also zurückhalten wollte, verstieß schon mal gegen das Freiheitsgebot. Zum anderen wurde mir die Frage von meiner Liebe gestellt, wenn ich mich recht erinnere. Nicht die Frage also gab den Ausschlag für die rechte Antwort, sondern das Mädchen, das die Frage stellte. Ich mochte diese Augen, ich mochte den Mund, Beziehungsebene ging vor Sachebene.

 

Tagelöhner Riebisch: „Ich kam zuerst auf den Berg und sah die beiden Fremden in der dort befindlichen Grube sitzen, die Dame hintenüber, auf dem Rücken liegen, die Mannsperson aber mit dem Unterkörper etwas eingesunken. Seine Hände lagen auf seinen Knien, und ein kleines Pistol zu seinen Füßen in der Grube. Ein großes Pistol lag auf dem Rand der Grube, zu seiner linken Hand und ein drittes kleines Pistol auf dem Tisch ungefähr

8 Schritt von den Leichnamen…. Ich richtete die Mannsperson auf, damit dieselbe in dieser Stellung nicht steif werden und dadurch die Grablegung erschweren mögte [sic], durchsuchte in Gegenwart der Madame Stimming und auf deren Befehl dessen Taschen und fand nichts als einen Schlüssel und Drücker, welche ich Madame Stimming aushändigte.“

 

Im vergangenen Herbst durfte ich erstmals mithelfen, einen Jugendgottesdienst zu organisieren. Es ging um das Thema „Leben und Tod“, es war kurz vor dem Totensonntag. Am Telefon hatte ich einen Friedhofsleiter gewonnen, der im Gottesdienst aus seinem Alltag berichten sollte. Es war abends, ich stand im Licht einer Straßenlaterne vor unserer Kirche und wartete auf den Mann. Er kam pünktlich fünf Minuten vor Beginn der Veranstaltung. Er hatte kurz vorher noch eine Zigarette geraucht, ich roch es ganz deutlich. Er war müde. Er war halb sechs in der Frühe aufgestanden, weil er zum Blumengroßmarkt musste. Während wir uns begrüßten, zog er verstohlen einen Kaugummi aus der Tasche. Es wollte offensichtlich den kalten Rauch in den Griff bekommen.

Nach dem Gespräch auf der Bühne fiel es mir wie Schuppen von den Augen: für den Friedhofsleiter geht es auf dem Friedhof eigentlich nicht um den Tod, sondern um das Leben! Bäume und Sträucher auf dem Friedhof sind Natur und oft genug Nistplatz für Vögel. Grabsteine sind lebendige Geschichte, der Friedhofsleiter ist Gesprächspartner für Trauernde. Und die schönsten Blumen im Blumengroßmarkt gibt es früh ums sechs. Ohne Blumen geht auf dem Friedhof gar nichts.

Wer tot ist, ist tot. Für die Lebenden dagegen geht es um das Leben, immer. Selbst auf dem Totenbett kann man sein Leben noch bereinigen, wohlgemerkt, das Leben! Man mag das anzweifeln, vielleicht nehme ich den Mund auch zu voll, aber wer wäre autorisierter für diese Feststellung als ein Friedhofsleiter?

Wenn der Friedhofsleiter mit seiner Frau einkaufen geht, gibt es immer wieder Irritationen. Seine Frau fragt ihn, wer all die Menschen sind, die ihn zwischen den Regalen grüßen. Sie kennen ihn vom Friedhof her. So wird der Tod ins Leben gewendet, in der Kaufhalle von nebenan.

 

Gastwirt Stimming: „Weil meine Geschäfte es nicht erlaubten, mich vom Hause zu entfernen, so ging erst meine Ehefrau nebst Dienstmädchen und nach ihrer Zurückkunft ich selbst hinüber… Ich stellte sogleich zwei Wächter dabei, welche Achtung gegeben, daß niemand die Leichen berührt hat und machte eine Anzeige an das Polizei-Directorium in Potsdam… Bei geschehener Nachsuchung auf den Zimmern fand ich nichts, als auf dem Zimmer der Dame ein kleines, hölzernes Kästchen, ungefähr eines Fußes lang und in dem Zimmer des Herrn ein kleines Felleisen, beide versiegelt. Diese Sachen sowie die beiden vorgefundenen Pistolen habe ich den um 7 Uhr abends hier eingetroffenen Herren Rendanten Vogel und Kriegsrat Peuilhen, wovon der erstere sich für den Ehegemahl der entleibten Dame ausgab, aushändigte. Weiter ist mir aus eigener Wissenschaft nichts bekannt.“

 

Natürlich gibt es Depression und Todessehnsucht. Ich habe keine Neigung zur Depression, glaube ich, auch wenn mir die dunklen Seiten des Lebens nicht unbekannt sind. Und die Frage, ob es dann nicht eine Anmaßung ist, sich zum Thema „Leben und Tod“ äußern zu wollen, ist durchaus berechtigt. Nur muss sie erst einmal gestellt werden. Das nämlich wäre der fruchtbare Anfang eines Gesprächs.

Ich sehe Heinrich von Kleist und Henriette Vogel vor mir, wie sie Fange spielend, dem See zurennen. Vielleicht kann man das Bild, die Interpretation Stefan Zweigs bedenkend, auch so deuten: Kleist fühlt sich erlöst von den Widersprüchen, die ihn zerreißen. Erlöst! Verräterische Sprache, welch wunderbare Wege gäbe es, ginge man von diesem Wort aus! Erlöst von was? Erlöst wohin?

Nehmen wir probehalber einmal an, Kleist sei in diesem Augenblick tatsächlich erlöst gewesen von seinen Widersprüchen, vom Dämon im Kopf. Dann müsste man sagen: Kleist hätte leben können, hätte er diesen Augenblick festgehalten. Jeder moderne Psychoterapeuth würde in diese Lücke springen und sagen: Stopp, wir reflektieren die Situation!  Der Augenblick am kleinen Wannsee war Leben, nicht Tod.

 

Ehefrau des Gastwirts Stimming: „Ich habe so wenig als irgendeiner meiner Leute geahndet, daß die beiden Personen einen bösen Vorsatz hätten. Sie schienen mir vielmehr beständig froh und guter Laune und nichts weniger als den Vorsatz zu haben, sich zu töten. An spirituösen Getränken haben beide zwei oder drei Bouteillen Wein, die sie sich mitgebracht, imgleichen ein kleines Fläschchen Rum genossen, überdies aber noch bei uns für 8 Groschen Rum gekauft und genossen.“

 

Mein Vater hat Krebs. Als die Diagnose raus war, Ende 2007, gab er alle Ämter ab und begann,  sein Leben komplett neu zu ordnen. Er arbeitete für die PDS in der Gemeindevertretung und wollte sich künftig der Öffentlichkeitsarbeit der Partei im Heimatort widmen. Und hatte noch einiges mehr vor. Alle Pläne für das Alter – hinfällig. Ein halbes Jahr später traf sich unsere Familie in Weimar, meine Mutter hatte dort nach dem Krieg gelebt. Mein Vater und ich schlendern durch eine belebte Fußgängerzone und ich frage ihn, wie es ihm jetzt gehe. Ja, sagt mein Vater, ihm sei leichter ums Herz. Er fühle sich für vieles nicht mehr verantwortlich, eine Last falle von ihm ab.

Sicherlich ist diese Aussage nur eine Momentaufnahme, Krebs verändert alles. Aber jetzt haben sich meine Eltern eine Sitzgarnitur gekauft, zwei Sessel und ein Sofa. Das alte Sofa, die alten Sessel flogen raus. – So ist das mit der Tragik, der eine erschießt sich, der andere kauft sich ein Sofa.

 Wie geht die Geschichte weiter?

 

Andreas Schrock, 2009

 

Nachbemerkung: Der Brief Kleistens und die Zitate aus den Vernehmungsprokollen stammen aus: Kleist: Ein Lebensbild in Briefen und zeitgenössischen Berichten, vorgestellt von Klaus Günzel, Verlag der Nation, Berlin 1984.



[1] Quelle: Wikipedia

Wer bin ich, wenn ich schreibe?

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In unserem Sommerseminar in Bad Sonnenland gab es viele eindrückliche Erlebnisse. Und sicher hat jeder sein eigenes mit nach Hause genommen und vielleicht auch zu Papier gebracht. Zwei meiner Erlebnisse vermischen sich nachträglich im Kopf: zum einen den Vortrag von Gerhard zum Thema „Sprache“, zum anderen die Gedichte von Frank, insbesondere das Gedicht „Wie geht’s dir“, nachzulesen im Gedankenwasser Nr. 110. Ich weiß nicht, warum ich so allergisch gegen den Text oder Teile des Textes reagiert habe. Es war nicht meine Absicht und doch spürte ich in mir etwas hochsteigen, eine richtige, echte, unfaire Ablehnung. Aber ich fühlte mich auch im Recht. Denn ziemlich schnell hatte ich ein Schema im Text erkannt oder zu erkennen geglaubt: so wie Frank den Text gelesen hat, kam er locker-fluffig rüber. In der Diskussion hieß es dann, dass alles genau so sei, wie es da stehe. Und gemeint, also das, was in der Diskussion ungesagt aufbrach, war genau das Gegenteil.

In zeitlicher Reihenfolge gab es also drei Ebenen. Ebene 1: Das gesprochene Wort. Der Text kam von der Stimmmelodie locker-fluffig ins Ohr. Ebene 2: Das geschriebene Wort. Daran entzündete sich die Diskussion. Die Behauptung war: genauso ist es, wir manipulieren täglich. Ebene 3: Das gemeinte Wort. Im Laufe der Diskussion bekam ich mit, dass die Sache mit der Manipulation im Grunde ein unhaltbarer Zustand ist.

Das passt nicht zusammen, die Aussagen sind gegensätzlich und die Behauptung, die „Provokation“ sei gelungen, ist, denke ich, in solchen Fällen billig. Eine „Provokation“ kann man immer alles nennen, was Diskussionen auslöst. Auch marschierende Neonazis mit Marx-Sprüchen auf dem Transparent (habe ich erlebt).

Aber ich hatte in der Diskussion noch ein weiteres Erlebnis: die Personalisierung, denn auf einmal ging es um „Manipulation in den Medien.“ Oh, was da aufbrach, was für eine berechtige Wut oder Wütigkeit. Ich war erschrocken und wollte gerade den Fehler begehen, meine Arbeit zu verteidigen bzw. zu erklären. Was brach da auf? Ilona hat das ihre benannt. Oder war ich mit meinen Bemerkungen selbst schon in die Reihe der Zyniker geraten?

II
Meine These ist immer noch, dass der Widerspruch zwischen den Ebenen den Zynismus des Textes ausmacht. Die Linien treffen sich nicht, nicht einmal im Horizont. Der Text ist keine Provokation, sondern eigentlich eine Verschleierung, eine Verharmlosung. Einen schlechten Zustand fröhlich kund tun (Ebene 1), ihn zugleich als alternativlos hinzustellen, was sonst ja Madame Merkel gerne macht (Ebene 2) und dann im Grunde wütend zu sein (Ebene 3), genau das würde ich als Zynismus bezeichnen.
Zugegeben ist das eine Vereinfachung, denn wütend war nicht der Autor, sondern andere Teilnehmer unserer Runde. Aber mir geht es auch nicht um Personen, sondern um etwas anderes. Denn erst jetzt, im Nachhinein merke ich, warum mir der ganze Text so gegen den Strich ging: weil er mich selbst betrifft, genauer die Kurzgeschichte „Frühstück zu dritt“, die einst im Gedankenwasser Nr. 4 erschien. Das Heft ist mir verloren gegangen, aber das Gedankenwasser Nr. 5 liegt vor mir und dort finde ich die Reaktionen auf den Text. Diese Reaktionen waren nicht sehr schmeichelhaft: da wurde eine große Einsamkeit des Autors entdeckt und überhaupt, so die Kritiken, lag ich mit der Grundaussage gehörig neben der Spur.
Die Grundaussage war: „Es ist zu spät.“ Sie drückte zu der Zeit, Anfang der 90er Jahre meinen Seelenzustand aus.

Immerhin hatte sich ein ganzes Gesellschaftssystem in Wohlgefallen aufgelöst, ein System, in dem es mir immer auch die öffentlichen Plätze angetan hatten. Die weiten, offenen, zugigen Plätze. Der Alexanderplatz in Berlin zum Beispiel oder der Exerzierplatz in Perleberg oder der Bahnhofsvorplatz in Dresden. Diese Plätze waren Spiegel meiner Seele, bis an den Rand der Augen. Hinzu kamen persönliche Lebensumstände, in denen ich mittendrin steckte und die ich einfach nicht verstand. Und dann sitzt die Ich-Figur mit zwei Freunden beim Frühstück und schaut ihnen zu, wie sie mit einem Lächeln ihr Ei aufklopfen und auslöffeln. Als sei nichts geschehen. „Es ist zu spät“ – locker-fluffig dahin gesagt, war für mich der rettende Satz, um diesen Widerspruch zu lösen. Dachte ich.

 In Wahrheit war der Satz, so sehe ich es heute, zynisch. Denn vom Alexanderplatz oder Exerzierplatz hatte ich nichts geschrieben, auch nichts von den Rändern meiner Augen. Die Geschichte ging vielmehr mit dem Frühstück los und das Frühstück hatte aus dem Nichts etwas unheimlich Bedrohendes, ohne das es erklärt worden wäre. Dieses Bedrohende wiederum wurde so locker gelesen…ja, dass es nur zynisch sein konnte. Nein, ich wollte kein Zyniker sein. Und bestimmt war ich nicht durchweg Zyniker. Aber vielleicht gab es eine Seite in mir, einen Botenstoff zwischen zwei Synapsen, ein rätselhaftes Areal im Kopf. Woher kommt das? Woher kommt Zynismus als Haltung?

 Und wie kann man denn solch einen Widerspruch, der einen fast zerreißt, ausdrücken? Mit welcher Haltung, wenn nicht mit Zynismus? Mit Empörung? Mit Trauer? Mit Glauben? Mit Liebe, die freilich auch das Leiden kennen sollte? Mit Ironie?

 Wer will ich sein, wenn ich schreibe? Ein Empörter, ein Leidender, ein Mitleidender (Solidarität!), ein Liebender, ein Klagender, ein Anklagender? Oder will ich lieber ein Spötter sein?

 III
Beim Zappen durch die Fernsehkanäle ist mir irgendwann mal Dieter Bohlen und seine Sendung „Deutschland sucht den Superstar“ begegnet. Und mit ihm all die echten und vermeintlichen Talente, die er nicht selten hart abbürstete. Vielleicht täusche ich mich, aber könnte man an diesem Beispiel nicht den Unterschied von Ironie und Zynismus erkennen?

Ironie demaskiert, entblättert, macht den Kandidaten nackt. Ironie nimmt dem König die Kleider, macht ihn lächerlich. Ironie ist schmerzhaft, oft auch ungerecht (sie wird dem Betroffenen nicht gerecht, jedenfalls nicht seinem Selbstbild). Ironie kann Tränen erzeugen, Ironie tut weh.  Aber Ironie kann auch heilen von Illusionen, von Wahn, von falschen Welt- und Selbstbildern. Der Ironiker ist ein hervorragender Enttäuscher. Er nimmt den anderen oder dessen Eigenart auf die Schippe. Im günstigen Fall nimmt sich der Ironiker selbst auf die Schippe, schafft Distanz zu eigenen Vorstellungen und bringt damit eine gewisse Leichtigkeit ins Spiel, die es dem Leser meist angenehm macht, ihm zu folgen. Ironie muss geübt sein, sie ist ein schwieriges Pflaster.

Ganz anders der Zynismus. Der Gegenstand des Zynismus ist nicht die aufgeblasene Schönheit, sondern der schon verwelkte Strauß. Der Ironiker legt die Wunde frei, die so schön verborgen, der Zyniker bohrt in dieser Wunde genüsslich herum. Der Ironiker bringt Leute zu Fall, der Zyniker aber trampelt danach noch auf ihnen herum.

Der Zyniker kann auch auf seiner eigenen Seele herumtrampeln. Der zynische Schreiber ironisiert einen Zustand, der ohnehin schon schlecht ist und keiner Ironisierung mehr bedarf.

Es gibt freilich einen Übergang von Ironie zum Zynismus. Wenn Dieter Bohlen, den ich nicht leiden kann, seinen Kandidaten abkanzelt, muss er im richtigen Moment aufhören. Wenn der Kandidat am Boden liegt und Bohlen witzelt weiter, kippt die Situation von der Ironie in den Zynismus. Deshalb finde ich Ironie auch so schwer: wo höre ich auf, wenn ich erst einmal angefangen habe?

Zynismus, als gekippte Ironie, ist eine Unhaltung. Zynismus sollte es nicht geben. Wir sollten uns gegenseitig darauf aufmerksam machen. Zynismus ist nicht weit weg vom Hass, vielleicht noch die softere Variante.

 IV
Ich mag Franks Gedicht. Weil es eine Idee hat und weil sich das im weiteren Sinne „Ungereimte“ gut auflösen lässt. Die Botschaft steckt ja drin im Text, sie ist nur verschüttet. Es gibt sicher mehrere Zugänge, um die Botschaft freizulegen und damit für den Leser transparent zu machen. Mein Zugang wäre der über das Kommunikationsmodell von Friedemann Schulz von Thun. Es ist nur ein Denkmodell, aber es hat mir schon oft geholfen, verknotete Situationen aufzudröseln. Nach diesem Modell stecken in allem, was wir sagen, mindestens vier verschiedene Ebenen: die Ich-Botschaft (Selbstoffenbarung), die Du-Botschaft (Appell), die Sachebene (Bericht) und die Beziehungsebene (Haltung).

 Ich könnte mir vorstellen, dass der Text gewinnt, wenn er versucht, sich den Ebenen separat zu nähern, es vielleicht sogar bei einer einzigen Ebene belässt. Zum Beispiel könnte der Text in der Ich-Form erzählen: wie hat der Autor das Erlebe erlebt, was sind seine tatsächlichen (ursprünglichen) Gefühle? Der Text könnte aber auch auf der Sachebene bleiben: was ist da eigentlich los in der Gesellschaft, im Arbeitsalltag, im Familienleben? Vielleicht würde aus dem Gedicht ein Prosatext werden: ein kritischer Bericht oder ein Essay oder eine Geschichte mit fiktionalen Elementen, die dem Erzähler ja immer eine große Freiheit schenkt! Die Übersicht von Gerhard listet ja viele, ganz interessante Möglichkeiten auf. Vielleicht gerät der Text aber auch auf die Appell-Ebene (Du-Botschaften): das ist nicht so gern gesehen, weil von Moralsprüchen alle die Nase voll haben, aber warum sollte man ein modernes Agit-Prop-Stück nicht versuchen? Hat nicht auch Gerhard „Agitation“ als legitimes „Wozu“ des Sprechens gekennzeichnet? Oder man schreibt den Text weiter, über die Klammer „Wie geht’s dir….und dir“ hinaus. Das lyrische Ich kann weiter fragen und in diesen Fragen Du-Botschaften transportieren. Natürlich könnte auch das „lyrische Du“ antworten. Manchmal werden gute Texte mit der Zeit auch länger. Schließlich, als vierte Ebene, die Beziehungsebene. Sie fällt mir immer am schwersten, weil sie am meisten beinhaltet. Ja, ich finde Beziehungsebenen in der Regel richtig anstrengend, obwohl ich ihrer selbst sehr bedarf. Aber vielleicht entsteht so eine Ebene von selbst, wenn man die anderen für sich untersucht? Eine transparente (nachvollziehbare) Haltung zu etwas finden ist etwas Großartiges, was einem nicht jeden Tag passiert. Eine Meinung hat jeder, aber eine Haltung ist ja mehr. Sie beinhaltet ja auch die Sicht des Gegenübers, sie hat auch mit Perspektivwechsel zu tun.

 V
Meinen missglückten Text „Frühstück zu dritt“ habe ich später zu dem Text „Wir waren dreißig“ umgearbeitet. Ich habe die Geschichte in drei Varianten aufgedröselt: wie hätte sich die Geschichte im Fall a, b oder c entwickelt? Aus Gründen der Praktikabilität (Lars und ich wollten den Text in einer Lesung bringen) habe ich die drei Varianten wieder auf zwei gekürzt. Das „Es ist zu spät“ habe ich drin gelassen, aber sparsamer und ich habe den Satz verlängert, versucht zu erklären, warum es zu spät ist oder zu sagen, dass es zumindest für diese Stunde zu spät war. Das ist nicht so planvoll geschehen, wie es hier aussieht. Es ist mir passiert, ich hatte es nicht im Griff.

In Bad Sonnenland war es jedenfalls nicht zu spät für eine mitter­nächtliche, konzentrierte Textarbeit. Die Runde sprach von „Mani­pulation“, mein Stichwort war dagegen „Verantwortung“. Das musste schief gehen. Die Medien manipulieren und dann sagt da einer aus der Gilde, er würde eher von Verantwortung reden! Ja, das war zynisch, auch wenn es nicht so gemeint war. Aber ich war auf einen Begriff aufgesprungen, der nicht gut tat, weil er die Komplexität des Vorganges nicht erfasst und im Grunde nur die blanke Zustimmung erlaubt.

Vielleicht finden sich andere Begriffe, andere Worte, vielleicht sogar poetische? Gern verbünde ich mich mit dem Autoren in seinem Anliegen. Lass uns Lösungen suchen und finden.

Andreas Schrock, Herbst 2012