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Galerietipp: Tretjakow-Galerie

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Das Bild sprach mich an, auf den ersten Blick. Dieser Blick. Ein
Selbstporträt Sinaida Serebrjakowas (1884-1967) mit dem Titel „Vor dem
Toilettentisch“.

Als Sinaida das Bild malte, war sie 25 Jahre alt.
Das Porträt nach dem Selbstporträt zu zeichnen, war nicht so einfach. Ein
roter und ein blauer Pastellstift, die ich vorsorglich in die Hemdtasche
gesteckt hatte, reichten nicht. Mehrmals pendelte ich zwischen Ausstellung
und Garderobe, bis ich am Ende die ganze Palette an Stiften versammelt
hatte. Die Aufsicht hatte meinen Plan schnell erkannt, verzichtete denn
auch auf das Vorzeigen des Billetts, lächelte mir dagegen mütterlich zu. Ich
saß auf einer gepolsterten Bank, mitten im Saal. Zum Schluss fehlte mir
noch ein Radiergummi, den ich für 80 Rubel (80 Cent) an der Kasse
erstand.
*
Die Tretjakow-Galerie in Moskau mit ihren zwei Standorten hat mich
berührt, mehr als mir lieb war. Der Einlass, also der erste Einlass, noch vor
der Garderobe, war streng. Wie alle anderen Besucher leerte ich meine
Taschen, durchlief eine Art Flughafenkontrolle und wurde von
Uniformierten mit Scannern abgesucht. Das gleiche Prozedere gibt es in
Moskau übrigens an jeder Metro-Station und jedem einigermaßen großen
Kaufhaus. Aber nach der Kontrolle wurde es in der Galerie ganz einfach.
Man gehört dazu. Jacke, Tasche, diverse Utensilien sind erlaubt, selbst ein
ungeniertes Fotografieren.
*
Vier Dinge sind mir an den ausgestellten Werken aufgefallen:

1. Die Maler geben den Augen einen Blick. Es sind nicht nur die
Lichtpunkte schlechthin. Selbst im Weiß des Augapfels spiegelt sich
flächig das Licht. Beispiel: Sinaida Serebrjakowa „Am Toilettentisch“
(1909)

2. Die Kleidung der dargestellten Menschen hat fast immer einen
Moment der Unordentlichkeit. Bei den Frauen ist meist die Bluse ein
wenig verrutscht, bei den Männern der Bademantel über dem Bauch
oder ein paar olle Hosenträger. Oder das Hemd rutscht aus der Hose.
Beispiel: Pjotr Kontschalowski „Selbstporträt im gelben Hemd“ (1943)

3. Selbst in der realistischen Malerei ist alles ein bisschen extremer als in
der Wirklichkeit. Die Realität wird überhöht. Oder niedriger, schwärzer
gemacht. Oder schiefer. Ein Bild, dessen Titel und Maler mir entfallen
sind, zeigt am Rand links unten einen Wassereimer. Er steht schief
angelehnt an eine Banja, das Wasser steht aber natürlich horizontal.
Alle Beschreibungen, die ich später über das Bild las, hielten sich an
dem Mädchen auf, das gerade aus der Banja kam. Ich kam über den
schiefen Eimer mit der geraden Wasseroberfläche nicht hinaus.

4. Die Figuren stehen nur selten gerade wie ein preußischer Soldat. Meist
haben sie eine leichte Drehung. Der Körper, oder wenigstens der
Oberkörper, ist in Bewegung. Dadurch ändert sich der Faltenwurf der
Gewänder. Beispiel: Arkadi Plastow „Die Heuernte“ (1945)
*
Nach etwa zwei Stunden war meine kleine Zeichnung fertig. Die Frau auf
meinem Papier hatte vielleicht ein wenig Ähnlichkeit mit dem Selbstporträt
Sinaidas. Aber sie war auch ganz anders. Eine eigene Persönlichkeit, die
mir selbstbewusst entgegentrat. Als ich die Galerie verließ, lächelte ich der
Aufsicht glücklich zu. Die Aufsicht lächelte diskret zurück.

Alte Tretjakow-Galerie in Moskau, Metrostation Nowakusnezkaja. Neue Tretjakow-
Galerie, Metrostation Park Kulturui
Öffnungszeiten beider Galerien:
Montag geschlossen
Dienstag und Mittwoch 10 – 18 Uhr
Donnerstag bis Samstag 10 – 21 Uhr
Sonntag 10 – 18 Uhr

Andreas Schrock, September 2023

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