Sitzt Mu Lan am Fenster,
Und sie webt ein Kleid.
Hält das Mädchen inne,
Seufzt vor bittrem Leid.

„Woran denkst du, Schwester,
Geht das Herz dir schwer!“ –
„Kann an nichts mehr denken.
Und mein Herz ist leer.

Las den Befehl des Kaisers,
Als die Boten kamen.
In zwölf langen Listen
Steht des Vaters Name.

Ist zu jung das Söhnchen,
Brüderchen, was dann! –
Kauf ich Pferd und Sattel,
Reite selbst, Mu Lan.“

Auf dem Ostmarkt kauft sie sich ein Ross.
Auf dem Westmarkt kauft sie einen Sattel.
Auf dem Südmarkt kauft sie eine Trense.
Auf dem Nordmarkt kauft sie eine Peitsche.

Nimmt am Morgen Abschied von den Eltern,
Lagert schon zur Nacht am Gelben Fluss.
Hört nicht mehr den Ruf der fernen Eltern –
Nur die Wasser rauschen tief im Gelben Fluss.

Nimmt vom Gelben Flusse morgens Abschied,
Lagert schon zur Nacht am Schwarzen Fluss.
Hört nicht mehr den Ruf der fernen Eltern –
Fremdes Pferdewiehern nur ist dumpfer Gruß.

Fliegt zum Kampf weit über tausend Meilen.
Streift über Berg und Pässe unbewohnt.
Dumpfer Gong der Wachen macht sie frösteln.
Auf den Waffen glänzt ein kalter Mond.

Fällt der General nach hundert Schlachten.
Doch das Heldenmädchen bleibt verschont.
Wie sie heimkehrt nach zehn Kampfesjahren,
Wartet zum Empfang der Kaiser schon:

Hoher Würdenträger soll sie werden –
Und er bietet überreichen Lohn.
Und der Kaiser fragt, was sie sich wünsche.
Jede Ehrung schlägt das Mädchen aus.
„Lasst Mu Lan den schnellsten Renner,
Dass ich reite zu des Vaters Haus.“

Hörn die Eltern, dass die Tochter komme,
Eilen sie hinaus weit vor die Stadt,
Tritt die Älteste vor ihren Spiegel,
Streicht sich zum Empfang die Haare glatt.
Und der junge Bruder wetzt das Messer,
dass man einen Braten hat.

Tritt Mu Lan in die geliebten Zimmer,
Ach, entbehrt so manches Jahr.
Tauscht den Panzer mit den Kleidern,
Die sie trug, als sie ein Mädchen war.
Schmückt am Fenster sich mit Blumen,
Vor dem Spiegel strähnt sie sich das Haar.

Geht hinaus zu ihren Kampfgefährten.
Voll Erstaunen treten die herbei,
Sind sie doch marschiert zwölf lange Jahre,
Ahnten nicht, dass sie ein Mädchen sei.
Der Hase gräbt mit den Pfoten.
Die Häsin liebäugelt dabei.
Aber laufen sie über die Heide –
Sag, wer ist Hase, wer Häsin!

Übertragung ins Deutsche von Erhard Scherner

Anmerkung:
Die Ballade „Mu Lan“, eine chinesische Volksdichtung, hat zwei
Jahrtausende überdauert. In Musiken und Gemälden, dramatisiert und
vielfach verfilmt, ist sie präsent. Die Mädchen sprechen den Text, schlicht
und herb, noch heut.
Vor 75 Jahren bin ich der Ballade ein erstes Mal begegnet, als Übersetzer
in Peking, Unikat aus einer traditionell männerdominierten Gesellschaft.
So reitet Mu Lan, ob zu Pferd oder Kamel, unsterblich durch die Zeiten.

Erhard Scherner, Gedankenwasser 153