Blickwinkel
Es war in einem großen, verwilderten Park mit alten, knorrigen Bäumen. Auf der einen Seite grenzte dieser Park an einen Fluss, auf der anderen Seite stand ein Turm aus Backsteinziegeln auf einer seichten Anhöhe. Ein Mann, mit mehrsilbigem Namen, ging dort häufig spazieren. Im Sommer lief er lange über die kniehohen Wiesen und die unebenen, erdigen Wege, lehnte an den Bäumen, sah in den hohen Himmel oder saß auf einer Bank. Wenn er saß, dann war er ganz rund, das Kinn Richtung Brustbein gebeugt, als wolle er sein Haupt senken zum Herzen hin. Wie zu einer Kugel gerundet, in den Händen ein Buch haltend oder einen Gegenstand, den er zwischen den Fingern bewegte, war sie ihm irgendwann aufgefallen. Sie kam selten in den Park, aber wenn sie kam, war sie fast durchsichtig. Und sie kam so still, dass er, ob der Stille, die vorüberschwebte, den Kopf hob. Meistens war ihr Haar ein wenig zerzaust, umspielte ein schlichtes Kleid ihren Körper bis hin zu den Knien. Ihre flachen Schuhe hinterließen kaum einen Abdruck im Boden. Sie schien so leicht zu sein. Eines Tages nahm er einen alten Bildband mit in den Park. Die Seiten waren schon etwas vergilbt und fühlten sich ein wenig rau an. Auf dem braunen Leineneinband prangten die leicht verschnörkelten Buchstaben >Schönes Italien<. Als das Buch offen auf seinem Schoß lag und er die Seiten gemächlich umblätterte, sprach er sie, als sie langsam vorüberging, leise an. Er wollte ihr die Bilder aus dem Buch gern zeigen und all die schönen Landschaften mit ihr teilen. So kamen sie über diese An- und Aussichten und gleichsam über die offene, klangvolle italienische Sprache ins Gespräch. Sie erzählte ihm von ihren Reisen nach Rom und Venedig, von den vollen Gassen und Plätzen, weshalb sie die weiten, teilweise noch urbanen Landstriche von Kalabrien und Sizilien noch viel schöner fände. Sie berichtete von der Fülle im Norden und der heilsamen Kargheit des Südens. Ach, und erst diese Oliven- und Zitronenbäume dort, die Schattierungen der Farben und die Gerüche der Früchte! Sie kam ins Schwärmen. Nach etwa einer Stunde brachen sie dann aber auf und verabredeten sich für ein nächstes Mal. Als sie sich schon ein paar Meter voneinander entfernt hatten, rief er ihr nach, dass er frisches, vielleicht noch lauwarmes Baguette mitbringen würde. Und sie entgegnete ihm rasch, dass sie Pesto aus Basilikum und angerösteten Nüssen dazu anrichten wolle. Bei jenem folgenden, kleinen Picknick auf der Bank, sprachen sie über ihre Namen. Den ihren konnte man ab der Hälfte auch rückwärts lesen, ohne eine Klangveränderung zu hören. Ihr Name bestand aus drei Silben und enthielt zwei Konsonantendoppelungen. Annabell. Seit jeher fühlte sie sich wohl, wenn sie so genannt oder gerufen wurde. Annabell war weder zu häufig hörbar noch zu selten, als dass man den Namen bei etwaigen Nennungen wiederholen oder gar buchstabieren musste. Auch sein Name bestand aus drei Silben, aber dafür hatte er selbst gesorgt. Die ursprüngliche Fassung war um eine Silbe länger gewesen, doch diese entsprach ihm nicht, nicht seinem Rhythmus- und Wohlgefühl. Außerdem sprach er mit sehr hohem Tempo, so dass ihn die Länge des Namens hinderte, wenn er angesprochen wurde oder die Buchstabenfolge selbst notierten musste. Auch nach dem Tag, an welchem sie über ihre Namen gesprochen hatten, verabredeten sie sich für weitere Begegnungen im Park. Die Wiese war zu dieser Zeit saftig und in das Grün hatten sich Löwenzahn, Margeriten und lilafarbenen Winden gemischt. Einmal brachte er einen Bumerang mit und zeigt ihr, wie dieser zu werfen sei. Man musste einen bestimmten Winkel beachten, damit der Bumerang auch wieder zum gewünschten Ort zurückkehrte. Außerdem waren viel Kraft und Schwung von Nöten. Er veränderte immer wieder Blicke und Winkel, bevor er zum Wurf ansetzte. Für sie war es schwierig, den Bumerang entsprechend zu werfen. Es schien ihr, als wolle er ihre Blicke all zu sehr lenken, nicht nur zum Himmel und auf Erden. So kam es, dass ihr die Würfe in die Ferne gelangen, aber die Rückkehr nur selten. Es folgte die Zeit, als sie sich auch manchmal zur Nacht dort verabredeten. Der Sommer war vergangen und die Blätterfärbung längst vorüber. Viele Bäume waren kahl und die Büsche durchlässig geworden. Sie liebten es, wenn sie durch das hohe Laub schlurften und die braunen Blätter dabei empor stoben. Da brachte er eine Fackel mit, um die Dunkelheit zu befeuern und ihr Antlitz in anderem Schein zu sehen. Sie gingen damit bis zum entlegenen Fluss und dann wieder zurück, entlang der Anhöhe, auf die große Wiese. Nachts nannte er sie Bella oder Anna, je nach Stimmung, die ihm gerade entsprach. Ganz selten, wenn er glaubte, dass sie ihn nicht mehr hören konnte, sprach er die Silben leise vor sich hin: Bella Anna; und erinnerte sich an ihr erstes Gespräch. Als der Mond zur Sichel geformt war, brachte er seinen Bumerang wieder mit. Sie hatten lange nicht damit geworfen. Annabell fehlte noch immer die Übung, wie der Winkel besser gelänge. Sie schaute ihm lieber zu, mochte aus der Distanz von ihm das Werfen lernen. Beide machten sich einen Spaß daraus, nach dem ins Laub gefallenen Bumerang um die Wette zu laufen. Vielleicht waren zwei oder gar drei ausgelassene Stunden vergangen, in denen sie gelaufen, gelacht und getobt hatten. Sie schienen wie Kinder und wollten sich nun wieder verabschieden, um nach Hause zu gehen. Doch er wünschte einen letzten, weiten Wurf. Es sollte, so sagte er, ein großer Wurf werden. Als sie nach dem Bumerang suchten, war Annabell schneller als er. Sie bückte sich, gab ihm rasch ihren letzten Buchstaben vom eigenen Vornamen in die Hand, und er griff, übermütig im Spiel, nach dem vermeintlichen Bumerang, nahm Maß und alle Kraft zusammen und schleuderte ihn hinauf bis zum fernen Mond. Dort verhakte sich der Winkel im Gestein des Planeten und ward nie mehr auf Erden gesehen.
Und wenn sie nicht gerade einen Schuldschein einlöste oder eine Urkunde unterschrieb, schätzte sie die verkürzte Schreibweise ihres Namens. Er hatte in ihr etwas angestoßen und abgelöst. Doch es fehlte ihr nichts, vielmehr hatte er sie von Überflüssigem befreit. So erinnerte sie sich seiner immer und immer wieder neu.
Text und Bild von sibyl maschler – 2015