Er sagt
über ihn zu reden sei nicht nötig
seine Gedichte zu verstehen
so  sitz ich sprachlos
vor Texten, die ich übersetzen will
mache mir bewusst, was ich weiß
ohne ihn zu fragen
dass das stolze Land, in dem er geboren wurde,
verschwand von den Karten der Welt
dass man plötzlich wieder verhungern kann
und Menschen anderer Nationalität
wieder mit Misstrauen angesehen werden
in einer Gegend
in der für die Gleichheit aller jährlich
Transparente über die holprigen Straßen getragen worden waren
und Menschen in die Kälte Sibiriens geschickt
dort wurde er geboren
in einem Dorf, das nur eine Nummer trug
was selbst seine Frau erstaunte
so geheim also war der Ort
wieder kann ich nur fragend ahnen
aus dem, was ich ohne ihn weiß
kamen seine Vorfahren mit der preußischen Prinzessin
die später die Große genannt wurde?
wurden sie vom dem, der sich der Stählerne nennen lies
aus der Weizenkammer des Landes
in den Permafrost verbannt,
weil einer die gemeinsame Nationalität
der Überfallenden und Überfallenen fürchtete?
oder schickte sie frühere oder spätere Überzeugung
des Terrors oder der Notwendigkeit dorthin?
als Täter oder Opfer? – in jedem Fall
als Sieger der Geschichte – glaubten sie
und ich erinnere mich noch: glaubte auch ich
was bleibt einem Jungen, der aufwächst
in Halbwahrheiten und Verschweigen
als Glauben an die Notwendigkeit der Entberungen
des ewig gefrorenen Bodens
auf dem die ärmlichen Häuser stehen
vielleicht wuchs schon sein Vater so auf
vielleicht trug sein Dörfchen keinen Namen
weil es Staatsgeheimnis Nummer 282 war
vielleicht bleibt er so Geheimnisträger
eines Staates, den es nicht mehr gibt
eines Landes, das den Nachkommen
der vor Jahrhunderten Geworbenen
keine Perspektive mehr bietet
weil es selbst keine mehr sieht
vielleicht ist ihm auch nur unangenehm,
dass er keinen Abschluss vorzuweisen hat
in einem Land, in dem Abschlüsse zählen
und nicht, dass man Meister in der Tischlerei
und Klempnerwerkstatt war, weil man es konnte
weil jeder Tag einen prüfte und keine Handwerkskammer,
dass er seine Familie ernähren und kleiden konnte
ohne die Nationalitätszuständigkeit eines Staates
in Anspruch nehmen zu müssen
damals dort in der kalten Heimat,
dass seine Gedichte gelesen wurden in Zeitungen
er sie vortragen konnte im Sender einer Region
die größer war als die Republik, in der er nun lebt und
in deren Sprache sich erst seine Enkel problemlos verständigen,
dass er dennoch in ein Land gegangen ist
in dem jeder seiner großen Familie besser leben kann
als er

*

über ihn zu reden sei nicht nötig
aber so verstehe ich seine Gedichte
den Verlust,
des Glaubens, in dem er aufwuchs,
von der Welt, Heimat, Sprache
und sich
dem Tatmenschen,
dem man zuwenig zu tun gibt

*

und mit seinen Gedichten
verstehe ich meinen Nachbarn besser
der ab und zu betrunken vor meiner Tür steht
in gebrochenem Deutsch
weil er sich ausgesperrt hat
und über meinen Balkon
in seine Wohnung steigen kann
und ich verstehe vielleicht
mich ein klein wenig besser
weil ich mir lesend die Frage
nach meinen Verlusten zugestehe

für J. Hartung und Magdalene

Lars Steger