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Beide haben wir dieses Buch, womöglich im ehelichen Bett, von den Ehefrauen herüberge­reicht bekommen und für mich ist es die dritte Begegnung mit dem Schwedischen nachdem ich eine Zeitlang August Strindbergs „Am offenen Meer“ für das Beste hielt, was mir je empfohlen wurde, Henning Mankell auch nicht schlecht fand und jetzt eben Jonas Jonasson „Der Hundert­jährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“, das Du vorhin bei unserem eher zufälligen Telefonat als genial bezeichnet hast.

Die Schweden habe ich in meinem damaligen Aufsatz schon ausreichend gewürdigt, wie sie als kleine Nation Erstaunliches hervorbrachten. Nun auch diesen Journalisten, der sich wohl recht und schlecht mit einer Medienconsultingfirma zwanzig Jahre durchgeschlagen hatte und dann mal eben einen Weltbestseller schrieb. Bei Bestsellern ist ja berechtigte Skepsis geboten, denn was die Masse gut findet, ist doch meistens schlecht, aber hier hat die Masse Geschmack bewie­sen, auch wenn sie sicher nur die Hälfte versteht von dem, was Jonasson da zusammengepuzzelt hat.

Nachdem die Schweden so etwa mit dem Dreißigjährigen Krieg der Wikingertradition der brutalen Kriegszüge abgeschworen hatten und sich sowohl technischen Entwicklungen als auch der Psychologie der Partnerbeziehungen unter dem Stern des Individualismus zugewandt hatten, von denen Ibsen, Strindberg und nun auch Mankell zehrten bzw. zehren, wobei letzterer noch die Komponente der Kriminalität entdeckte, melden sie sich mit Jonasson auf der Weltbühne zurück, auf der doch gerade die Versatzstücke der Ideologien gegeben worden waren, die Millionen ins Unglück gestürzt hatten. Diese Weltbühne, geschuldet der Überfütterung mit politischen Details, ist eben eine politische Weltbühne, aber die Genialität des besprochen Romans besteht gerade darin, dass ebendieser Politik eine Absage erteilt wird, auch wenn sie gleichwohl die Bezugsebe­ne bildet, dessen, was wir im Unterricht der modernen Geschichte gelernt haben. Mit diesem Material springt der Autor so um, dass weniger Gründliche jetzt der Meinung sein werden, dass Einstein einen unehelichen Bruder hatte und dass ein umtriebiger Schwede so ungefähr allen Staatsmännern begegnet sei, die die letzten hundert Jahre aufzuweisen hatten.

Dass es mit der Politik zuende gegangen sein könnte, ahnt jeder, der die Wende erlebt hat und die letzten zwanzig Jahre verfolgte oder aber zu der Erkenntnis gelangte, indem er die Politik mehr oder weniger ignoriert hat. Die Alternative, die Jonasson aufmacht, das Leben mit Freunden, Frauchen und dem Bruder Alkohol bringt eine Grundauffassung zum Ausdruck, die tiefer verwurzelt ist als der Wikinger Kriegsgelüste, nämlich dass man es sich gutgehen lassen sollte und ein wenig Selbstzerstörung durch Bruder Alkohol auch nicht schaden kann, denn man will ja, auch wenn man nicht mehr an ein Jenseits glaubt, nicht ewig leben. Dass dieses Leben jenseits von Welterlösung vielleicht ein bisschen dürftig ausfällt und kräftig mit Phantasie zu befeuern ist, ist vielleicht gerade die schwache Seite des Buches, aber doch immerhin ein Anfang von etwas Neuem und wie wollte man mehr verlangen.

Das Apolitische, dass sich darin äußert, dass der hundertjährige Held Allan Karlsson regelmäßig die Ohren zuklappt, wenn ihm jemand etwas von dieser Sorte nahebringen möchte, hat sich Karlsson nicht erst wie andere gewesene Revolutionäre nach entsprechender Lebenszeit zugelegt, sondern gleich als Jugendlicher verinnerlicht, als nämlich sein Vater, der bekennender Sozialist war, nach Russland aufbrach, um die Revolution zu unterstützen und dem dann die Liebe zum Zaren dämmerte, was ihm zu einem ungünstigen Zeitpunkt passierte und ihm daher das Leben kostete. Wie da über den Charismatiker Lenin gesprochen wurde, wollte mir erst gar nicht gefallen. Man kann das Buch auch gut und gerne als antikommunistisch einstufen, was sicher zu einem Gutteil des Welterfolgs beitrug und auf den Olymp der Bestsellerlisten hob. Erinnert man sich aber, dass eigentlich dem Politischen insgesamt eine Absage erteilt wird, wie einem bei weiterer Lektüre klar wird, dann bietet es eben auch eine Alternative an, auch wenn diese zunächst im Faulenzen und Saufen besteht.

Dass die Deutschen die Rassenhetze und Zwangssterilisationen als Mittel zur Bekämpfung schädlicher Elemente nicht gepachtet hatten, wird aus der Anwendung solcher Praktiken in Schweden an dem mittlerweile hundertjährig Gewordenen ebenso deutlich wie an den Plänen der Briten mit der gesamten deutschen Bevölkerung nach dem zweiten Weltkrieg so zu verfahren. Überhaupt scheint sich der schwedische Patriotismus darauf zu beschränken, dass man möglichst zurückgezogen in einem Häuschen wohnt mit möglichst einigen geliebten Haustieren. Die Gemeinschaft, die sich im Laufe des Romans aus derart Lebenssatten bildet, wird dann noch überführt in das, was wir früher als Menschengemeinschaft vage angepeilt hatten und was zu einem realeren Teil erreicht war als in Jonassons Vision, die ein wenig kapriziös ist und eigent­lich auch nur mit einer Menge Geld auskommt.

Im Vordergrund des Romans spielt sich ein entschuldbarer Krimi ab mit allen Unterweltak­tivitäten, die das am wenigsten korrupte Land der Welt zu bieten hat, abgesehen vielleicht vom Sex. Existenzen, die hierzulande nicht mehr möglich sind, wo man von der Wilderei in einer verlassenen Bahnstation mitten im Wald oder einer fehlplatzierten Imbissbude oder zum Besten eines zugelaufenen Elefanten leben kann, werden ausgebreitet, wobei sich alles an einem mittels Drogenhandels gefüllten Geldkoffers, den der aus dem Fenster des Altersheims gestiegene Jubilar mehr oder weniger zufällig an sich bringen konnte, entspinnt.

Parallel dazu erfahren wir das chronologisch entwickelte Leben des Allan Karlsson, das ihn um die ganze Welt getrieben hat, wobei der erschwerende Umstand ins Gewicht fällt, dass Schweden in seiner frühentdeckten Friedensliebe ja auch keine Kolonialmacht war, man es also überall mit fremden Mächten zu tun hat, von denen die kommunistische Bewegung nicht die Unbedeutendste war, sondern fast der Aufhänger schlechthin. Karlsson begegnet auf dieser Reise abwechselnd unbedeutenden und sehr bedeutenden Menschen, die er aber alle über einen Leisten schlägt und nach Sympathie und Trinkfestigkeit, was fast das Gleiche ist, bewertet. Er selbst ist ja auf jeden Fall sympathisch, ein Schwede eben, der nicht unnötig lamentiert – ein Wikinger eben – der sich auch nicht unnötig den Kopf zerbricht, wenn man dem Kommenden gemütlich zuwarten kann, und der etwas von Sprengstoff versteht, der wohl spektakulärsten der schwedischen Entdeckungen (siehe Nobelpreis). Abstinenz als den Inbegriff der unguten Lebensweise erträgt er höchstens mal fünf Jahre im Gulag, wofür der schwedische Superman, ganz ohne unnötige Rachegedanken, mal eben eine ganze Stadt ausradiert. Dabei befolgt er die Maßgabe, dass die sinnreiche Erfindung von Explosionsstoffen möglichst gegen Sachen wie Brücken, die man doch mit ein wenig Schweiß immer wiederherstellen kann, eingesetzt wird und möglichst nicht gegen Menschen, auch wenn es gerade mal den General Franco getroffen hätte, der sich als erster Prominenter im näheren Umgang als passabel erweist wie auch wenig später der Kommunistenjäger Truman, der dicke Churchill und andere, die allesamt besser wegkommen als ihre kommunistischen Antipoden, die er auch alle „trifft“, als einem schon klar ist, dass das Ganze ja ein „Schelmenroman erster Güte“ ist, wie der Spiegel nach dieser Werkschau herausfand.

Das ist also eine grandiose Fiktion und man weiß wieder mal nicht, was man davon seiner Bildung zuschlagen kann oder wo man dem Einfallsreichtum Jonassons auf den Leim ging. Wie der Krimi im Vordergrund des Romans, ist das aber so gut gemacht, dass man nicht bereut, dass man aus der Geschichte kaum etwas dazulernt, sondern prächtig (ein Lob an die Übersetzung) unterhalten ist. Auch wenn im Detail einiges nicht stimmt und das Ganze eine Lachnummer ist, sind die Fakten so kunstreich arrangiert und im Wesentlichen ja dennoch verbürgt, dass es kein Fehler sein kann, dem Autor seine Genialität zu bescheinigen und die Mühe zu würdigen, die dieses Buch gemacht haben muss, dass alles so wunderbar zusammenpasst. Wo es andere gerade mal zu einem Actionverwirrspiel bringen und einen grandiosen Showdown zusammenzimmern, machen uns die friedliebenden Schweden vor, dass man auch ohne Völkermord und folgender jahrzehntelanger Agonie etwas zu sagen haben kann in der Literatur.

Den Rechercheaufwand, den der gewesene Medienconsultingmann getrieben haben muss, ist, trotz der Griffe in die Trickkiste, die er meisterhaft beherrscht, immens. Die lebensphilosophische Bedeutung ist es aber auch. Jetzt soll er an seinem zweiten Buch arbeiten und man darf gespannt sein, ob sich der 52-jährige noch zu weiteren Höhen aufschwingen kann.

C.R. 18.7.2013