Monthly Archives: Juli 2015

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Christian Rempel: Übermacht

Übermacht Des Lebens holde Partitur schwebt in Tönen übers Land auf Noten starr ich, wie gebannt gespielt so weiter die Natur ...

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Übermacht

Des Lebens holde Partitur
schwebt in Tönen übers Land
auf Noten starr ich, wie gebannt
gespielt so weiter die Natur

Sie schließet so in Tönen ein
was selten ist und unbeweglich
mit Worten wäre es unsäglich
erweichend selbst den harten Stein

Bis dann der Sturmwind braust heran
dem sind gegeben eigne Töne
kein Singen ist’s, vielmehr Gestöhne
den Schritt zurück, den deutet’s an

Und Schweigen senkt sich in die Seelen
nicht Leid will mehr nach außen drängen
drapierend dunklen Schmuck umhängend
den Tönen und dem Sturm befehlend

C.R. 30.7.2015

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▶ Links – Heinrich Heine: Die Harzreise (Audio) – Literatur Erbe

Heinrich Heine erscheint mir wie ein eigenes Universum. Seinen Hauptwerken und Gedichten werden im Blog eigene, Artikel gewidmet. Heinrich Heines Reisebilder "Die Harzreise" und seine Gedichte gehören zu unserem Literatur Erbe, deshalb haben sie einen Platz in diesem Blog. Wer im Netz Seiten findet, die diesen Artikel gut ergänzen könnten und zu denen verlinkt werden sollte, kann es in einem Kommentar vermerken. Vielen Dank für Eure Unterstützung. Liane Fehler Onlineredaktion ▶ Heinrich Heine: Die Harzreise Meinhard Zanger liest (gekürzte Fassung) (ca.:59:min) ▶ Heinrich Heine: Die Harzreise Ausschnitt von Werner Wilkening (Audio) Werner Wilkening präsentiert einen kleinen Ausschnitt aus Heinrich Heines Reisetagebüchern. Die ironische Geschichte des Dr. Paul Asher, der nie an Gespenster glauben wollte ... ▶ Goethezeitportal historischen Bilddokumente ▶ Literaturillustrationen zu Heinrich Heines Harzreise von Albert Váradi und Hugo Willkens goethezeitportal ▶ Heinrich Heine: Die Harzreise Wikipedia ▶ Heinrich Heine: Reisebilder Die Harzreise (1824) Project Gutenberg (Text online) ▶ Heinrich Heine: Die Harzreise Project Gutenberg (Downloadmöglichkeiten des Textes) ▶ Heinrich Heine - Harzreise - a part of the poem ,,Harzreise" from Heinrich Heine in a english translation

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Heinrich Heine erscheint mir wie ein eigenes Universum. Seinen Hauptwerken und Gedichten werden im Blog eigene, Artikel gewidmet. Heinrich Heines Reisebilder „Die Harzreise“ und seine Gedichte gehören zu unserem Literatur Erbe, deshalb haben sie einen Platz in diesem Blog. Wer im Netz Seiten findet, die diesen Artikel gut ergänzen könnten und zu denen verlinkt werden sollte, kann es in einem Kommentar vermerken. Vielen Dank für Eure Unterstützung.

Liane Fehler Onlineredaktion


▶ Heinrich Heine: Die Harzreise Meinhard Zanger liest  (gekürzte Fassung) (ca.:59:min)

▶ Heinrich Heine: Die Harzreise Ausschnitt  gelesen von Werner Wilkening (Audio)

Werner Wilkening präsentiert einen kleinen Ausschnitt aus Heinrich Heines Reisetagebüchern.
Die ironische Geschichte des Dr. Paul Asher, der nie an Gespenster glauben wollte …

▶ Goethezeitportal  mit historischen Bilddokumenten

▶ Literaturillustrationen zu Heinrich Heines Harzreise von Albert Váradi und Hugo Willkens  goethezeitportal

▶ Heinrich Heine: Die Harzreise wikipedia

▶ Heinrich Heine: Reisebilder Die Harzreise (1824) Project Gutenberg (Text online)

▶ Heinrich Heine: Die Harzreise  Project Gutenberg (Downloadmöglichkeiten des Textes)

▶ Heinrich Heine – eine Kurzbiografie goethezeitportal

▶ Heinrich Heine – Harzreise – a part of the poem  ,,Harzreise“ from Heinrich Heine in a english translation

Auch Dichter aus der heutigen Zeit und unseren Zirkeln haben sich dem Thema Harzreise zugewandt.

▶ Christian Rempel: Eine Reise stürzt mich in Verwirrung

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smt: Albtraumwelt

Albtraumwelt Der Indianer kommt in die Stadt und sein Mustang säuft Benzin. Der Indianer fährt durch die Schatten der Häuser und seine Haut verblasst. Der Indianer verdient jetzt Geld und er geht in die Bar und trinkt. Der Geist irrt durch die Straßen und sucht verzweifelnd seinen Körper. Der Kopf ist leer, das Herz verblutet und der Geist schwebt in die Bar. Der Indianer sitzt am Tresen und sein Geist erzählt ihm, wie er einmal war. Die Worte strömen, reißen, verletzen, bluten und der Indianer schneidet sich die Zunge ab.

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Albtraumwelt

Der Indianer kommt in die Stadt
und sein Mustang säuft Benzin.

Der Indianer fährt durch die Schatten der Häuser
und seine Haut verblasst.
Der Indianer verdient jetzt Geld
und er geht in die Bar und trinkt.

Der Geist irrt durch die Straßen
und sucht verzweifelnd seinen Körper.
Der Kopf ist leer, das Herz verblutet
und der Geist schwebt in die Bar.

Der Indianer sitzt am Tresen
und sein Geist erzählt ihm, wie er einmal war.
Die Worte strömen, reißen, verletzen, bluten
und der Indianer schneidet sich die Zunge ab.

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smt: Selig – aus der Anthologie unDichternebel: 2001 – 2015

Selig Hinter dem Meeresrauschen ein Fels von Stille umtost klein geborgen steht er im Rücken hoher Berge urzeitalt ...

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Selig

Hinter dem Meeresrauschen
ein Fels
von Stille umtost
klein geborgen
steht er im Rücken hoher Berge
urzeitalt
sein kahles Haupt krüppelkieferumkränzt
reckt er zum Himmel unerreichbar.

Seine Beschützer teilen die Wolken
schaffen ihm eine Sonneninsel.
Er weiß nichts von der Brandung
die sich ihm entgegennagt.
In jugendgreiser Weisheit
strahlt er in seinem Glück
und atmet
Ruhe.

Das Gedicht wurde veröffentlicht in der Jubiläumsanthologie: “unDichterNebel” 2001 – 2015
(ISBN  978-3-941394-40-7 / Osiris Druck Lpz.)

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Christian Rempel: Eine Reise stürzt mich in Verwirrung

Eine Reise stürzt mich in Verwirrung Das malerische Ilsenburg am Harz wurde für einige Tage unser Aufenthaltsort. Zweimal versuchten wir von dort den Aufstieg zum Brocken und beim zweiten Mal gelang es auf dem Heineweg, der uns schon beim ersten Mal ins Auge gefallen war, den wir aber für zu lang und nicht bewältigbar hielten. Schließlich war Heine da 27 und wir entweder viel jünger oder viel älter. Vielleicht muss man allein sein, um möglicherweise der Prinzessin Ilse bei ihrem täglichen Bad in dem nach ihr benannten Gebirgsbach zu begegnen. Sie soll im Ilsenstein hausen und über ein kristallenes Schloss verfügen, in das sie denjenigen führt, der so glücklich ist, sie zur rechten Stunde beim Bade anzutreffen, wofür einem königliche Belohnung wird. Man darf aber nicht vorzeitig in den durch sie mit Herrlichkeiten gefüllten Ranzen blicken, sonst findet man nur Tannenzapfen oder Pferdemist vor. Heine verstieg sich nicht dazu, diese Stunde getroffen zu haben, aber er versetzt sich in die Prinzessin, indem er schreibt Ich bin die Prinzessin Ilse, Und wohne im Ilsenstein Komm mit nach meinem Schlosse, Wir wollen selig sein. Einige Verse später stellt Heine fest, dass sie nicht nur Dich, wenn Du die Stunde trafst, umsorgt hat, sondern auch den Kaiser Heinrich, gemeint ist Heinrich IV. Ich will dich küssen und herzen, Wie ich geherzt und geküsst Den lieben Kaiser Heinrich, Der nun gestorben ist. Man rätselt heute noch, ob dieser Heinrich ...

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Das malerische Ilsenburg am Harz wurde für einige Tage unser Aufenthaltsort. Zweimal versuchten wir von dort den Aufstieg zum Brocken und beim zweiten Mal gelang es auf dem Heineweg, der uns schon beim ersten Mal ins Auge gefallen war, den wir aber für zu lang und nicht bewältigbar hielten. Schließlich war Heine da 27 und wir entweder viel jünger oder viel älter. Vielleicht muss man allein sein, um möglicherweise der Prinzessin Ilse bei ihrem täglichen Bad in dem nach ihr benannten Gebirgsbach zu begegnen. Sie soll im Ilsenstein hausen und über ein kristallenes Schloss verfügen, in das sie denjenigen führt, der so glücklich ist, sie zur rechten Stunde beim Bade anzutreffen, wofür einem königliche Belohnung wird. Man darf aber nicht vorzeitig in den durch sie mit Herrlichkeiten gefüllten Ranzen blicken, sonst findet man nur Tannenzapfen oder Pferdemist vor. Heine verstieg sich nicht dazu, diese Stunde getroffen zu haben, aber er versetzt sich in die Prinzessin, indem er schreibt

Ich bin die Prinzessin Ilse,
Und wohne im Ilsenstein
Komm mit nach meinem Schlosse,
Wir wollen selig sein.

Einige Verse später stellt Heine fest, dass sie nicht nur Dich, wenn Du die Stunde trafst, umsorgt hat, sondern auch den Kaiser Heinrich, gemeint ist Heinrich IV.

Ich will dich küssen und herzen,
Wie ich geherzt und geküsst
Den lieben Kaiser Heinrich,
Der nun gestorben ist.

Man rätselt heute noch, ob dieser Heinrich ein Tyrann und Wüstling oder wirklich ein lieber Kaiser war, wie der zur Ilse mutierte Heinrich Heine es sieht. Auf jeden Fall hat er sich im Streit mit dem Papst und den eigenen Fürsten aufgerieben, bekannt ist sein Gang nach Canossa, wo er die Hinwegnahme des Kirchenbannes vom Papst erbettelte, den er nichts desto trotz später, als er wieder mit Bann belegt ward, nach allen Regeln der Kunst bekriegte, dann nicht mehr bat, sondern zwang. Später wurde er dann vom eigenen Sohn, Heinrich V. zur Abdankung gezwungen, obwohl er diesem schon in jungen Jahren den Schwur abgenommen hatte, dass er zu seinen Lebzeiten nicht nach der Herrschaft trachten sollte. Ein guter Kaiser war Heinrich IV. auf jeden Fall für die Juden im Lande, denen er Privilegien einräumte. Vielleicht auch ein Gesichtspunkt für Heine, ihn als Ilse zu herzen und zu küssen. Auch hat er in seinen späteren Jahren dem deutschen Reich versucht Frieden zu bringen. Poetisch gesehen hätte er das vielleicht gleich versuchen sollen, denn das Ilsegedicht endet

Doch dich soll mein Arm umschlingen,
Wie er Kaiser Heinrich umschlang;
Ich hielt ihm zu die Ohren,
Wenn die Trompet‘ erklang.

Bei Ilsen ist man dem Militärischen offenbar abhold, wenn man sich vorm Klang der Trompeten die Ohren verschließen lässt. So gibt es eben auch das Bild vom „lieben“ Kaiser Heinrich, das ihn als Versager brandmarkt, der nicht genug Kraft besessen hätte, sich durchzusetzen. Bismarck meinte jedenfalls, als es mal wieder an die Gründung eines deutschen Reiches ging: „Nach Canossa gehen wir nicht.“ Von einer kränkelnden Republik wird das auch keiner mehr verlangen und wir müssen uns heute nicht mehr festlegen und können gar müßig herumklügeln, was wir von den Heinrichen halten wollen. Des Heinrich Heines Dahinsiechen über acht Jahre in der Matratzengruft ist es sicher auch nicht, was wir nachleben wollen und den Kaiser Heinrich hat man so oft umgebettet, wie das schlechte Gewissen gebot.

C.R. 26.7.15

Wer jetzt literarisch tiefer in den Harz eintauchen möchte, findet in diesem Artikel: Literatur Erbe – Heinrich Heine weitere Links zum Lesen oder Anhören

▶ Heinrich Heine: Die Harzreise – Literatur Erbe

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Dorit Brückner: Die Schatten

Die Schatten Ein Wind weht durch mein Herz, schwanger mit schicksalhaften Dingen. So fasst mich an, was ich nicht fassen wollte. Wie ein Tor in die Ferne öffnet sich was doch immer schon in mir war. Die Dinge haben ihren Seelenwinkel verlassen. Auf schweren Schatten liegt nun Licht. Bin umzingelt von tragischen Gestalten. Der Kern meiner Sicherheit ist zernagt. In bitterer Breite stehe ich, zeitabwärts fließend vor meiner herbeigeschleppten Moral. Langsam tröpfelnd fließt sie an mir herab. Sichtbar werden : Vergessenes Verbanntes Geleugnetes Verdrängtes Projiziertes

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Die Schatten

Ein Wind weht durch mein Herz,
schwanger mit schicksalhaften Dingen.

So fasst mich an, was ich nicht fassen wollte.

Wie ein Tor in die Ferne öffnet sich
was doch immer schon in mir war.
Die Dinge haben ihren Seelenwinkel verlassen.

Auf schweren Schatten liegt nun Licht.
Bin umzingelt von tragischen Gestalten.
Der Kern meiner Sicherheit ist zernagt.

In bitterer Breite stehe ich, zeitabwärts fließend
vor meiner herbeigeschleppten Moral.
Langsam tröpfelnd fließt sie an mir herab.

Sichtbar werden :   Vergessenes

Verbanntes
Geleugnetes
Verdrängtes
Projiziertes

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Dorit Brückner: Indian Summer

Indian Summer Ich explodiere, Hüpfe auf der Stelle, drehe mich um meine eigene Achse, bis keine Achse mehr vorhanden ist. Bin leicht, entferne mich von der Erde, verströme mich in den Himmel, verschmelze mit : Bäumen Erde Steinen Farben Vermische mit Allem. Werde zu diesem Moment für immer für ewig bleibend immer abrufbar

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Indian Summer

Ich explodiere,
Hüpfe auf der Stelle,
drehe mich um meine eigene Achse,
bis keine Achse mehr vorhanden ist.
Bin leicht, entferne mich von der Erde,
verströme mich in den Himmel,
verschmelze mit :           Bäumen
Erde
Steinen
Farben

Vermische mit Allem.
Werde zu diesem Moment
für immer
für ewig
bleibend
immer abrufbar

Dorit Brückner

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Gerhard Jaeger: Beschattet

Beschattet man, ich bin gerannt in Fremdheit durchs Land, bitte sehr der Schatten voran der Schatten hinterher unter Segel, ahoi der Schatten dabei im Gummiboot – Schattennot Hunger, Angst und Schrecken kein Verstecken wo immer ich gestrandet der Schatten landet in der ersehnten Welt an reichen Küsten ein Schatten, ein Schatten der mich fällt

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Beschattet
man, ich bin gerannt
in Fremdheit
durchs Land, bitte sehr
der Schatten voran
der Schatten hinterher
unter Segel, ahoi
der Schatten dabei
im Gummiboot – Schattennot
Hunger, Angst und Schrecken
kein Verstecken
wo immer ich gestrandet
der Schatten landet
in der ersehnten Welt
an reichen Küsten
ein Schatten,
ein Schatten
der mich fällt

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Marita Hotopp: Auf der Suche

Auf der Suche Sehnsucht nach Leben Suchend Wild, intensiv Visionär Hoffnung auf Sinn Beschwingte Freude gegen tiefen Schmerz, Begeisterung gegen Enttäuschung Immer wieder Flüchtige Momente Im Wandel der Zeit – Unerwartet  gelingt Vertrauen Gelebte Verbundenheit - unschätzbar Miteinander im lebendigen Austausch Realität – erbarmungslos Lautlos schreiend Versinken - abgrundtief Kämpfen, durchhalten, Rastlos, getrieben, erschüttert… -    Trauernd in Einsamkeit Unerträglichem Schmerz entkommen … Fahrn, fahrn, nur fahren – gedankenlos, konzentriert konzentriert gedankenlos Fahrn, fahrn, fahrn viele hundert Kilometer -    Ankommen wo quälender Schmerz erträglich wird Wieder ganz bei mir -    In Verbundenheit und doch anders

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Auf der Suche

Sehnsucht nach Leben
Suchend
Wild, intensiv
Visionär
Hoffnung auf Sinn

Beschwingte Freude gegen tiefen Schmerz,
Begeisterung gegen Enttäuschung
Immer wieder
Flüchtige Momente

Im Wandel der Zeit –
Unerwartet  gelingt Vertrauen
Gelebte Verbundenheit – unschätzbar
Miteinander im lebendigen Austausch

Realität – erbarmungslos
Lautlos schreiend
Versinken – abgrundtief
Kämpfen, durchhalten,
Rastlos, getrieben, erschüttert…
–    Trauernd in Einsamkeit

Unerträglichem Schmerz entkommen …
Fahrn, fahrn, nur fahren – gedankenlos, konzentriert
konzentriert gedankenlos
Fahrn, fahrn, fahrn viele hundert Kilometer
–    Ankommen wo quälender Schmerz erträglich wird

Wieder ganz bei mir
–    In Verbundenheit und doch anders

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Jennifer Müller: Lino & Anna

Lino & Anna Der Tag, an dem ich ihn traf, war ein Montag. Man hatte mich beurlaubt und ich war mehr denn je versunken in dem Gefühl völlig nutzlos zu sein. Tagsüber lag ich nun meistens auf der Couch und starrte aus dem Fenster. An besagtem Montag hatte es mich jegliche Kraft- und Mutreserven gekostet, aber nun saß ich auf einem dieser Behindertenstühle in einem wirklich sehr kahlen und ungemütlich kleinen Raum. ...

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Lino & Anna

Der Tag, an dem ich ihn traf, war ein Montag.

Man hatte mich beurlaubt und ich war mehr denn je versunken in dem Gefühl völlig nutzlos zu sein. Tagsüber lag ich nun meistens auf der Couch und starrte aus dem Fenster. An besagtem Montag hatte es mich jegliche Kraft- und Mutreserven gekostet, aber nun saß ich auf einem dieser Behindertenstühle in einem wirklich sehr kahlen und ungemütlich kleinen Raum. Behindertenstühle deswegen, weil man mit ihnen wippen kann. Das sieht einfach behindert aus und ich habe mich immer geweigert zu wippen. Das ist eines der wenigen Dinge, auf die ich stolz bin, denn man wird automatisch dazu verleitet zu wippen. Man merkt das gar nicht, das ist ein so unbewusster Vorgang, dass die meisten gar nicht mitbekommen, dass sie wippen und dabei so wahnsinnig behindert aussehen. Aber ich widerstand voller Trotz dem Drang danach zu wippen. Herrin meiner Handlungen! Anna Sonntag, die Unbezwingbare, die Selbstbestimmte, die beurlaubte Juristin in einem Behindertenstuhl, NICHT WIPPEND!

Und gerade, als ich innerlich voller Stolz und Eigenbewunderung einem Selbstlob verfiel, betrat er den Raum. Mit seinen hängenden Schultern und dem trampeligen Gang machte er sofort einen seltsam bemitleidenswerten Eindruck. Tiefe Augenringe, eine rote Säufernase und zerzauste, aschblonde Haare. Stoppelige Wangen verbargen mehr schlecht als recht seine Aknenarben. Er schmiss sich auf den nächstbesten Stuhl und legte die Ellenbogen auf die Lehnen.

„Jetzt fängt er gleich an zu wippen“, dachte ich, meinen Blick ungeniert auf ihn gerichtet. Einige Sekunden vergingen und er saß einfach da und ich starrte ihn an. Er wippte nicht. Ich glaube, deshalb kam er mir vor wie der einzige zurechnungsfähige Mensch in diesem Raum. Wir zwei waren anders, das sah man sofort. Wir waren die Selbstbestimmten in diesem Raum voller nichtsnutziger Säufer, die alle fröhlich vor sich hin wippten.

Sogar der Gruppenleiter tat es! Vielleicht dachte er, es hätte einen tieferen psychologisch bedingten Sinn, eine Art Kollektivempfinden und vielleicht würde er uns auffordern, es ihnen gleich zu tun.

Aber es blieb dabei. Die Wippenden fingen an sich vorzustellen und die Situation kam mir plötzlich unwirklich vor. Ich mochte ihnen nicht zuhören. Ich wollte ihre Trinkgeschichten nicht hören, ihre stolzen Worte über Entzüge und Trockensein. Sie machten sich alle nur selbst etwas vor, ich wusste es und der einzig andere zurechnungsfähige Mensch in diesem Raum wusste es allem Anschein nach auch, denn als die Blicke auf ihn gerichtet waren, sprach er mit einer kläglich heiseren Stimme aus, was sich niemand eingestehen will.

„Wir alle sind krank. Ob wir daran Schuld sind oder nicht, sei dahin gestellt. Aber leben müssen wir damit, macht euch nichts vor, es gibt keine Heilung… nur Entscheidungen …“

Und dann verstummte er. Sein Körper war erstarrt, nur sein Mund hatte sich bewegt. Er machte einen merkwürdig apathischen Eindruck, er hatte sich nicht einmal umgesehen oder eine Hand zur ausdrücklichen Geste gehoben, nicht einmal ein Finger hatte gezuckt und nun hüllte es den Raum in Schweigen.

Er hatte sich entschieden. Dieser fremde Mann dort, war in seiner vollen Erscheinung ein Meisterwerk an Entscheidungskraft und er saß dort wie ein Ausrufezeichen.

„Danke… für diesen Beitrag… warum erzählst du uns nicht etwas über dich?“ fragte der Gruppenleiter, dessen Name mir völlig entgangen war und den ich in seiner wippenden Erscheinung auch gar nicht weiter beachten wollte.

„Mein Name ist Lino.“ sagte er, heiser aber bestimmt. Ich sah, wie sich sein Blick vom Boden löste und einmal reihum die Wippenden übersah, bis er den meinen traf.

Mehr sagte er nicht. Und mehr hatte ich auch nicht zu sagen als ich dran war.

„Ich heiße Anna.“ murmelte ich, den Blick auf Lino gerichtet und dann sah ich seine Mundwinkel zucken, nicht wissend, ob er sich dazu entschieden hatte, oder nicht.

Jennifer Müller

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