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Die beste aller Welten liegt wohl in Schweden, in dem ausnahmsweise, mal nicht gleich auf der ganzen Welt, der Roman Jonas Jonassons „Die Analphabetin, die rechnen konnte“ im Wesentlichen spielt. Allerdings war das auch bei seinem ersten Roman (Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand) der Fall, dass der Schwede irgendwann mal wieder in der Heimat anlandete, um dann eine Verfolgungsjagd, beschirmt durch skurrile Mitbewohner und gejagt durch die Polizei und Geheimdienste, auf heimischem Boden zu veranstalten. Bei aller Ähnlichkeit der beiden Romane, bleiben diesmal die Schweden im Wesentlichen zu Hause, während der Roman mit einer minderjährigen Latrinentonnenleererin beginnt, die, wie in Soweto üblich, Analphabetin ist, aber eben über ganz gute Rechenkenntnisse verfügt, die sie gleich am Anfang unter Beweis stellt, als sie 92 mit 95 multipliziert. Sie macht das so, dass sie feststellt, dass es von 95 bis hundert 5 sind und von 92 bis hundert 8. Zieht man diese Differenzen von der jeweils anderen Zahl ab, kommt jedesmal 87 heraus, was mit hundert zu multiplizieren ist, also 8700. Dazu ist jetzt nur noch das Produkt der Differenzen zu hundert zu addieren und das ist ja 40. Also hat man 8740. Klar wird einem das erst, wenn man zum Beispiel mal schreibt:

92×95=92(100-5)=9200-92×5=9200-(100-8)5=9200-500+8×5=8740

Der geübte Leser wird darüber hinweggehen, der ambitionierte Mathematiker geht der Sache nach. Damit ist es dann aber auch schon genug mit den Rechenkünsten und es bleibt nur die überragende Intelligenz der Heldin Nombeko. Ebenso nehmen dann die Unwahrscheinlichkeiten ihren Lauf, so dass der durch Zufall reichgewordenen, nun schon nicht mehr Analphabetin, dann das Missgeschick zustößt, dass sie vom leitenden Ingenieur des südafrikanischen Atombomben­pro­jektes überfahren wird, als Schwarze allerdings schuldig gesprochen, dann diese ihre Un­schuld beim A-Bombenprojekt abarbeiten muss. Der Ingenieur ist so unbedarft und eben ein Säufer, dass man sich wundern kann, dass die Bombe dann wirklich erfolgreich getestet werden und in Serie gehen kann. Es hatten eigentlich sechs Bomben werden sollen, aber da man nicht richtig zählen kann, werden daraus sieben, und diese letzte überzählige Bombe wird dann zum weiteren Inhalt des Romans, weil sie Begehrlichkeiten des israelischen Geheimdienstes weckt, der bei dem Projekt zugegen ist. Der Autor hat sich verkniffen, noch den Gag einzubauen, dass die Replikas dann gar nicht funktionsfähig waren, aber lässt die siebente Bombe nach Schweden und natürlich geradewegs in die Hände der ebenfalls dorthin geflüchteten  Nombeko gelangen, der dort in einer Parallelgeschichte schon das Nest gebaut wurde, dort auf Zwillinge zu treffen, die republi­kanisch erzogen wurden, einer der Sicherheit halber gar nicht als existent geführt wurde und die bei aller äußerlichen Verwechselbarkeit die Idee der Monarchiebeseitigung doch recht unter­schiedlich verinnerlicht hatten. Der nichtexistente Zwilling hat sich nämlich dieser Idee aus tieferer Einsicht nicht verschrieben und ist daher der Liebe der Nombeko gewiss, die sich bei Jonasson immer im Drang äußert, sich fortpflanzen zu wollen, was den beiden aber so schlecht gelingt, dass sie wie der Vater der Zwillinge erst lange Zeit kinderlos bleiben.

Der Show down, also das an den Mann Bringen und unschädlich Machen der Bombe zieht sich über gut zwei Drittel des Romans hin und man muss diesmal etwas länger als im ersten Roman sehen, was in Schweden alles an Subversivem möglich ist, bis man an König und Ministerpräsident kommt, indem man sie mal eben kidnappt. Schon vorher ist die bunte Mischung von einer Familie, wie sie Johannson scheinbar immer mit den illustersten Typen konstruiert, schon wieder ins Spiel gekommen, bis man dann auch König und Ministerpräsident in diese beschauliche Privatsphäre integriert.

Da hat man dann schon das ganze Feuerwerk von Possen über sich ergehen lassen, das einen prächtig unterhalten kann, wenn man sich erst mal daran gewöhnt hat, in die unwahrschein­lichs­ten Einfälle hineingezogen zu werden. Diese Einfälle, die man nicht an der Ratio messen kann, müsste man erst mal selbst alle haben. Wie nach einem Netzplan werden alle möglichen Kombi­nationen aus den Fakten ausgespielt. Man glaubt kein Wort davon, er aber ist auch nicht den Schritt gegangen zur bloßen Verrücktheit, die einen dann abschalten ließe und dieses Buch in die Ecke feuern, denn man möchte doch köstlich unterhalten sein. Der Zufall, so kräftig an die Leine genommen, möchte scheuen, vielleicht gar kein Zufall mehr sein, denn es passiert sowieso, was der Autor für dramaturgisch angezeigt hält.

Ganz so viel Antikommunismus haben wir erfreulicher Weise nicht mehr in diesem Roman. Chinesen, von denen man ja nicht so genau weiß, wie kommunistisch sie noch seien, kommen ganz gut dabei weg. In der Quintessenz ist der Roman als politisch apologetisch einzustufen. Zwar ist Schweden die beste aller Welten, aber eine mit Menschenrechtsverletzungen ist auch irgendwie erträglich. Bei allem Zunder wird kräftig an den Ecken der Extremisten gefeilt, bis sie alle schön rund sind für das Happy end, das wieder in allgemeinem Reichtum, Wohlstand reicht da nicht, aufgeht. Dabei ist die Message seiner Romane, dass die bis ins Kriminelle gesteigerte Skurrilität der Menschen die eigentliche Würze des Lebens ist, und paradoxer Weise beschreibt der Roman aber weniger deren Entstehung, sondern deren Verbrauch.

Der Roman beweist, dass man ein dickes Buch vollkriegt, wenn man genügend Einfälle hat, ohne dass auch nur eine Seite Langeweile aufkommt. Andererseits funktionieren die Figuren abgesehen von den inszenierten Schicksalschlägen vollkommen linear und man hat es im eigentlichen Sinne nicht mit Literatur, sondern Komik zu tun. Die jeweilige Auflösung in Familienverbände könnte man als Kitsch bezeichnen und Mitgefühl zählt nicht zu den Größen, die da entwickelt werden könnten, denn das Ganze ist ja ausgedachter, in sich stimmiger und unterhaltsamer Blödsinn.

Nach dem Ende der Literatur musste ja noch was kommen. Der schöne Begriff des magischen Realismus, wie man ihn auf Marquez‘ „Hundert Jahre Einsamkeit“ anwenden könnte, trifft diese moderne Stilrichtung der Verquickung von Tagespolitik, Weltgeschehen und Schwedenfamilien­saga nicht so recht. Dem gepeinigten Zufall zuliebe, dem all sein Unterhaltungswert abgekauft wird und da es sich ja um etwas Geschriebenes handelt, würde ich Zufallographie für einen angemessenen Begriff halten. Das Adjektiv unterhaltsam kann man sich ob des Erfolges schenken. Am oben erwähnten Ende der Literatur ändert das allerdings nichts. Es ist nicht die Blüte, die ein totgeglaubter Sukkulent hervorbringt. Also gießen Sie Ihre literarischen Kakteen nur ab und an weiter.

 

C.R. 25.2.2014                                           www.gedichtladen.de