Categotry Archives: Thema

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Liane Fehler: Regen

Der Regen trommelt plätschert, klickert tröpfelt  gluckst und gurgelt ein Klangteppich der mich schweben läßt in die Ruhe schauckelt eine Melodie Ich lausche ein Herzschlag stimmt mit ein

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Der Regen trommelt
plätschert, klickert
tröpfelt 


gluckst
und gurgelt
ein Klangteppich
der mich schweben läßt

in die Ruhe
schauckelt eine Melodie
Ich lausche
ein
Herzschlag stimmt mit ein

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Isabel Arndt: Sabbattagebuch „Unterwegs“

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Isabel Arndt

I
16.01.20

Es gibt solche Tage. Solche, die ins Licht geboren werden. Die beginnen, wenn es Zeit ist.
Die anderen, die aus der Nacht geschnitten werden, Frühchen von Tagen also, die blass und schwach starten, die im Brutkasten des Morgens liegen – die will ich nicht mehr beginnen noch beenden. Jetzt, jetzt, jetzt kriegen die Tage ein Possessivpronomen, sie heißen: meine.

Noch zwei Monate und ich fahre los. 51 Jahre mit dem Leben verhandelt. Auf Knien, im Dreck, im Sturm. Verträge abgeschlossen, kleinste gemeinsame Nenner gefunden. Je mehr Kompromisse, destokleiner die Zahl. Bin Bruch, immer der Bruch eines Ganzen gewesen. Jetzt werde ich Zähler sein. Die Sache ist gekippt. Die Südhalbkugel wird für mich bald oben sein. Das Ende der Welt, el fin del mundo ein Anfang.

Ich möchte ins Fremde tauchen. Ins Dunkel, ins Unbekannte. Es hat Gesichter, Sprachen, Farben, Gerüche. Es hat Gassen und steinige Aufstiege. Es hat womöglich spitze Zähne. Ich kenne es nicht. Es ist wie das Morgen. Ich möchte es begrüßen. Aufrichtig, freundlich, respektvoll. Möchte das Haus erkunden, das unsere Welt ist. Den Mörtel und die Einschusslöcher.

II
10.03.20

Zwei Wochen noch. Die Spielfigur rückt voran. Mein Zeigefinger reist bunten Linien nach. Das Tablet leuchtet. Ich erkläre etwas, was mit mir nichts zu tun hat. Kap Horn, die Magellan-Straße, Torres del Paine im Lieblingsrestaurant. Warmer Kerzenschein und die ganzen Möglichkeiten füllen den Raum.
Wirklich dort sein wird komplett anders sein, heftigster Wind, mit Schnee ist immer zu rechnen und die Einsamkeit und ich – wir werden Freundschaft schließen müssen.

Jedes Abschiedstreffen bringt neue Ratschläge: was ich mitzunehmen, zu bedenken, zu planen, keinesfalls zu verpassen habe. Es ist fast gar nicht mehr meine Reise. Ich weiß, ihr meint es gut; ich mag euch, alle, die ihr euch sorgt. Einiges wird mich beschützen, anderes Ballast sein – wie unterscheiden? Die Ausrüstung unter die volle Gießkanne halten bringt neue Erkenntnisse. Einiges muss neu besorgt werden. Noch ist ein bisschen Zeit. Sicher ist: ich werde nicht auf alles vorbereitet sein. Muss improvisieren. Muss eine Achillessehne mitnehmen, die vor all dem streikt. Toller Zeitpunkt, wirklich. Ich verlasse Menschen, die ich liebe und liebenswerte welche, die ich grade erst traf.

Das Haus hat noch keinen, den es wärmt, wenn ich weg bin; wir suchen noch immer, das zermürbt. Und was wird dieser Virus noch alles anstellen, welche Grenzen versperren sich – am Ende kann ich nirgendwohin. Und womit? Der perfekte neue Rucksack steht vollgepackt im Wohnzimmer neben all den Sachen, die auch noch mit wollen. Die Gedanken rennen in meinem Kopf kreuz und quer. Die Tagesaufgaben auf Arbeit erledigt grade jemand, der aussieht wie ich, aber gar nicht bei der Sache ist. Ach, sag ich. Dabei wollte ich mich doch freuen.

III
16.03.20

Was tun?
Ein winziger Virus namens Corona tanzt auf meinen großen Plänen herum. Immer mehr Leute werden krank, Leute sterben irgendwo und das irgendwo kommt näher. Die anderen hamstern die Märkte leer, es gibt Handlungsanweisungen zur Handdesinfektion, zur Einschränkung sozialer Kontakte. Aber ein Telefon kann einen doch nicht umarmen.

Immer mehr Grenzen gibt es, allerorten wird zugesperrt. Die Angst oder die Vernunft – wer regiert hier? Ich weiß es nicht mehr. Ich kann doch jetzt nicht mehr an meinen Plänen festhalten – wie verrückt ist das denn? Das Auswärtige Amt sagt „nicht notwendige Reise“. Das Virus könnte auch mich irgendwo befallen und wäre ich dann nicht lieber bei maximaler medizinischer Versorgung hier?

In einer solchen Situation mache ich immer Lose. Das ist natürlich das Unvernünftigste, was man tun kann. Aber ich hab es extra schwer gemacht: von 4 Losen war nur eins dafür, weiterhin und jetzt nach Chile zu wollen. Als ich es zog, wusste ich, dass ich es ziehen wollte.

Ich bin längst nicht mehr hier. Weiß nicht, für wen all diese Mails sind, wovon sie handeln oder was von mir zu erwarten ist. Chilenische Pampa in meinem Kopf, Teppichboden unter den zuckenden Füßen.

IV
17.03.20

Auswärtiges Amt: „Ab Mittwoch, den 18.März 2020 schließt Chile seine Luft-, See- und Landgrenzen für die Einreise von Ausländern.“die zeitfenster sind durchsichtig. auch geschlossen sehe ich noch gelobtes land dahinter. ich habe ein bedrucktes papier namens ticket – ich hätte es nicht opodo, sondern dem schicksal abkaufen sollen.

man kann im eigenen traum ertrinken, mit den armen rudernd als teilte sich dadurch das vierbuchstabige „nein“ in zwei einzelne „ja“, von denen eins reichen würde, hindurchzuschlüpfen. aber das wünschen reicht nicht. und nicht, sich genau zu überlegen, wie alles passen könnte bis alles so schön passt, dass es zu schön ist für die wirklichkeit. träume dürfen das, die können gar nicht schön genug sein. aber wenn die träume mal wirklichkeit sein wollen, wenn die seifenblasen mal nicht blöd bei jedem wind und fremdkontakt platzen wollen, dann … und das heißt dann chance. daraus kann sich ganz was neues entwickeln, ganz was großes und schönes…

Das Personalreferat ist nett. Ich darf mir das nächstes Jahr noch mal wünschen. Das wird toll.

V
29.03.20

Vielleicht hätte der Zug noch funktioniert. Trotz Ausgangssperre. Vielleicht hätte Isabel Arndt am 24.03.20 noch 10:10 Uhr mit diesem Ticket von Dresden nach Frankfurt Flughafen fahren können. Statt dessen läuft sie, laufe ich – woandershin. Laufe – google Maps sagt 14 km – vom kleinen Elbhäuschen den Fluss aufwärts. Schlängle mich mit ihm, bis ich in den Eichhörnchengrund abbiege und dort in der Buschwindröschenstille raste. Die Eichhörnchen sind nicht da, aber ich. Während sich die Gedanken in die Zugpolster gekuschelt haben, die Füße auf den dicken Rucksack gelegt, dösen. Patagonien, endlich, jetzt ist es soweit. Heute Abend der Flug – noch nie so lange geflogen, wie wird das – erst bis Barcelona, dann Santiago de Chile – wie das schon klingt – und nach Punta Arenas der Anschlussflug. Zwei Tage wird das dauern, das wird anstrengend, wir müssen dringend schlafen, sagen die Gedanken, aber können gar nicht vor Aufregung.

Die wieder geöffneten Augen sehen grün. Ein linkselbisches Kerbtal, von Mittagssonne geflutet. Der Rucksack neben mir will weiter, will unbedingt weiter. Ach, der Rucksack ist schwer auf einmal. Die ganze Zeit eigentlich schon, aber jetzt, wo er so erwartungsvoll neben mir steht, so voll mit allem, was man braucht, mehrere Tage in der Steppe zu überleben, jetzt schaffe ich kaum, ihn hochzunehmen. Ich weiß nicht, warum das alles mit mir rumtrage. Ob ich überhaupt hier unterwegs sein sollte. Man soll zu Hause bleiben, Kontakt nur zu einer weiteren Person haben. Kein Flug geht mehr, kein Land hat noch offene Grenzen. Meine Tickets mit zehnstelliger Buchungsnummer bringen mich nirgendwohin. Ich wollte ans Ende der Welt, aber das Ende der Welt ist hierhergekommen. Es braucht nur ein winziges Virus und das Ende alles Vorstellbaren ist gekommen. Ein hübsches Virus übrigens; die Grafiker haben dem gelben Körper rote Krönchen aufgesetzt. Corona also. Es sieht nicht aus, als müsste man davor Angst haben. Ich habe nie wieder Angst haben wollen, ich wollte weit weg ganz allein klarkommen. Und das wäre ich, irgendwie. Aber jetzt soll ich Angst haben, jetzt soll ich vernünftig sein, Kontakte und Reisen vermeiden, wir müssen alle die Amplitude einer Kurve flach halten.Die Infizierten, die Toten sollen beherrschbar bleiben. Was um Himmels Willen ist hier los??

Weiter! Ich kann hier nicht bleiben. Nicht, wenn mein Flug in ein paar Stunden geht, nicht, wenn ich alle Schritte der nächsten Tage schon tausendmal gegangen bin. Gehen. Gehen ist Nicht-Bleiben. Das ist das Einzige, was aushaltbar ist jetzt. Es gibt einen Ort, es gibt genau einen Ort, an den ich jetzt möchte. Dort – ja, ich weiß, die Mutter seiner Kinder hat ihm, da Kontakt zu mir – 14 Tage in Quarantäne geschickt und jetzt komm ich, die Quarantäne mit ihm zu teilen, das ist so verboten, wie es schräg ist. Ich darf bleiben, aber auf keinen Fall zu nah. Das ist ok, so wie alles derzeit ok ist, was gar nicht ok ist. Die Nächte sind frostig. Wir haben den Aprikosenbaum in zwei weiße Laken gehüllt; der Scheinwerfer drunter leuchtet nachts Wärme, er leuchtet; eine weiße Fahne, wir haben kapituliert. Die Tage in reinstem Frühlingsblau, ahnungslos. Aus den Lautsprechern die neusten Zahlen, während ich die Katze kraule, während ich Erdbeerpflanzen umsetze. Finde ein Schild mit der Sorte „Korona“. Hämmere, hämmere mit dem alten Klüpfel, mit den alten Beiteln auf wurmstichiges Feuerholz ein, bis es mir sagt, was es eigentlich ist. Ich will dringend wissen, was es eigentlich ist, das alles.

Als er nicht sagte, bleib, ging ich. Ging ich den ganzen Weg zurück, um zu gehen. Unterwegs nach Patagonien. Ein Freund rief an, wir könnten. Könnten biwakieren an einem See, biwakieren ginge immer. Und zwei geht auch. Also ging der Rucksack wieder auf die Reise. Schöne Seen haben sie da in Patagonien. Wie die Kiesgruben bei uns. Sandige Ränder mit Birken. Rohrkolben, denen die Zeit weggeweht ist. Trübes Wasser, kalt. Trockenes Holz mit Birkenrinde und Feuerstahl leuchtet warm in unseren Gesichtern. Erstaunlich windstill in Patagonien.

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Liane Fehler: Kreislauf – Circulation

Kreislauf Lichtblaue Ewigkeit Felsengräberküste schwarze Vögel kreisen am Himmel Wellen branden an Felsen verschwinden und werden neu geboren Wellen branden an Himmel schwarze Vögel Felsengräberküste Lichtblaue Ewigkeit

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smt - Boot am Strand

Foto von smt (Layout 2)

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Kreislauf

Lichtblaue Ewigkeit
Felsengräberküste
schwarze Vögel
kreisen
am Himmel
Wellen branden an
Felsen verschwinden
und werden neu geboren
Wellen branden an
Himmel
schwarze Vögel
Felsengräberküste
Lichtblaue Ewigkeit

Sommer 2013

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Gerhard Jaeger (Text und Foto): Anstoß

. . . .. . . . . . . Sich sammeln ein, zwei, drei Monate kein Wort sprachlos keinesfalls aber schweigsam doch nicht ausdruckslos fast wie der Frosch jener plumpe, grünflinke der am Ufer bloß gluckt nicht hüpft, nur so guckt und tonlos redet mit dem Fisch den ich bislang nicht verstand so wie die auf Insekten warten brauche auch ich den Anstoß um zu springen schwimmen in den Redefluss

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Sich sammeln
ein, zwei, drei

Monate
kein Wort

sprachlos keinesfalls
aber schweigsam
doch nicht
ausdruckslos

fast wie der  Frosch
jener plumpe, grünflinke
der am Ufer bloß
gluckt nicht hüpft,
nur so guckt

und tonlos redet
mit dem Fisch
den ich bislang
nicht verstand

so wie die
auf Insekten warten
brauche auch ich
den Anstoß
um zu springen
schwimmen
in den Redefluss

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Desdemona: Heb ihn auf

. . . . . . . . . . "Heb ihn auf" für Marietta Er ist tiefschwarz, rund und griffig, er- ein Stein aus fernen Zeiten. Kommt aus tiefen, tiefsten Tiefen, als ein Zeuge wüster Schöpfung. Er erinnert an die Lava, die den Erdball überrollte. War geheiligt einst als Kultstein, als ein Kleinod unsrer Ahnen, Verbirgt Herkunft und Geschichte, wie ein Buch mit tausend Siegeln. Liegt am Rande deiner Wege: "Stein der Weisen" beim Berühren. (Lavabasalt als Urgestein findet man weltweit)

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Heb ihn auf

       für Marietta

Er ist tiefschwarz, rund und griffig,
er- ein Stein aus fernen Zeiten.
Kommt aus  tiefen, tiefsten Tiefen,
als  ein  Zeuge wüster  Schöpfung.

Er erinnert an die Lava,
die den Erdball überrollte.
War geheiligt einst als  Kultstein,
als ein Kleinod unsrer Ahnen,

Verbirgt Herkunft und  Geschichte,
wie ein Buch mit tausend Siegeln.
Liegt am Rande deiner Wege:
„Stein der Weisen“ beim Berühren.
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(Lavabasalt als Urgestein findet man weltweit)

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Gerhard Jaeger (Text und Foto): Ukrainische Holzkirche

. . . . . . . . . Ukrainische Holzkirche Wolowetz September 1983 Zwischen den Hütten verfault das Schiff In grünen Pfützen Gänsefüße schmatzen im Lehm in Ave – Maria wird geschnattert über die abgegraste Kirchenwiese wenn die Schar den Flechtzaun durchschreitet ist sie näher bei Gott Die Pforte der Arche – Noah steht offen hereinspaziert Weihnachten geht es ab in den Himmel

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Ukrainische Holzkirche

Wolowetz September 1983

Zwischen den Hütten
verfault das Schiff

In grünen Pfützen Gänsefüße
schmatzen im Lehm
ein Ave – Maria wird geschnattert
über die abgegraste Kirchenwiese

wenn die Schar den Flechtzaun
durchschreitet
ist sie näher bei Gott

Die Pforte
der Arche – Noah steht offen

hereinspaziert
Weihnachten geht es
ab in den Himmel

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Frank Siegert: Genuss

Genuss Einfach so da sitzn Die Zeit laufen lassen Ein gestern und morgen Beiseite schieben Die Gedanken die kommen Ins nirgendwo absetzen Ein Stück Schokolade In die Hand nehmen Das sündhafte Bedenken Fallen lassen An den Lippen Die Vorfreude aufnehmen Im Mund spüren Wie das Geschenk zerfließt Und endlich wissen Was heute wichtig ist

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Einfach so da sitzn
Die Zeit laufen lassen
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Ein gestern und morgen
Beiseite schieben
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Die Gedanken die kommen
Ins nirgendwo absetzen
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Ein Stück Schokolade
In die Hand nehmen
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Das sündhafte Bedenken
Fallen lassen

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An den Lippen
Die Vorfreude aufnehmen

Im Mund spüren
Wie das Geschenk zerfließt

Und endlich wissen
Was heute wichtig ist

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Frank Siegert: Betrachtungen an der Straßenampel

Wenn ich mit dem Fahrrad an der Straßenampel warte, könnte ich vor Ungeduld explodieren. Wann leuchtet endlich dieses blöde grüne Licht auf. Böse Dämonen haben sich gegen mich verschworen. Sie wollen mich nicht fahren lassen. Ans andere Ufer. Die Zeit dehnt sich ins Unendliche. Fühle mich wie ein Dampfkessel ohne Sicherheitsventil. Dann endlich, Grün leuchtet auf, Glücksgefühle flammen in mir auf. Ich trete in die Pedale und bin drüben.

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Wenn ich mit dem Fahrrad an der Straßenampel warte, könnte ich vor Ungeduld explodieren. Wann leuchtet endlich dieses blöde grüne Licht auf. Böse Dämonen haben sich gegen mich verschworen. Sie wollen mich nicht fahren lassen. Ans andere Ufer. Die Zeit dehnt sich ins Unendliche. Fühle mich wie ein Dampfkessel ohne Sicherheitsventil. Dann endlich, Grün leuchtet auf, Glücksgefühle flammen in mir auf. Ich trete in die Pedale und bin drüben.

Wenn ich mit dem Fahrrad an der Straßenampel warte, muss ich stehenbleiben. Stopp. Um mich herum rauscht der Verkehr. Die Autos schießen schnell an mir vorüber. Wohin fahren die Menschen alle. In den Urlaub? . Zum Finanzamt? Zur Geliebten? Eine unsichtbare Macht zwingt mich zum Anhalten. Jetzt bin ich hier. Muss in meinen Tagesablauf innehalten. Schaue an der Häuserwand hoch. Lasse meine Blicke umherschweifen. Dort an der Wand ein offenes Fenster, mit wehenden Gardinen, die nach draußen hängen. Ich will aber weiter. Weiter, schneller, schneller. Endlich das grüne Licht. Die Erlösung von meinen Leiden. Ich kann weiter.

Wenn ich mit dem Fahrrad an der Straßenampel warte, sehe ich die Leute neben mir. Wie sie in die Umgebung blicken. Manche mit Gesichtern, die das Leben gezeichnet hat. Tief gefangen in ihrem eigenen Dasein. Kein Lächeln, das den Tag erhellt und Mut macht. Befinden sie sich in einem Gefängnis. Kann das Aufleuchten von Grün das Gehen in die Freiheit für sie bedeuten. Nein, es ist nur eine normale Straßenüberquerung

Wenn ich mit dem Fahrrad an der Straßenampel warte, hoffe ich ungeduldig auf das Erscheinen des grünen Lichtes. Warum will ich, dass es aufleuchtet. Erwarte ich einen Lottogewinn? Eine Superbraut? Oder willst du einfach dein kleines beschauliches Leben weiter leben und auf die andere Straßenseite fahren.

Wenn ich mit dem Fahrrad an der Straßenampel warte,  Die Autos rauschen mit ihren stur nach vorne blickenden Insassen an mir vorbei. Der Verkehr dröhnt in meinen Ohren. Bereitet mir Schmerzen. Ich will doch nur weiter. Der Regen durchnässt mich. Mich friert. Jetzt mit einem Bacardi Rum in der Hand, auf einem Stuhl sitzen. Samba Musik im Ohr. Die rötliche Sonne im Untergehen genießen. Den lauwarmen Abendwind sanft um die Beine wehen lassen. Und von einer fremden Hand am Unterarm berührt werden.

Wenn ich mit dem Fahrrad an der Straßenampel warte. Wie als Kind das Hoffen auf Weihnachten. Aus Langeweile betrachte ich die Menschen auf der anderen Straßenseite. Bemerke, sie sind da, wo du hinwillst. Das ist nur ein Zwischenstopp. Eine kurze Episode an diesem Tag. So oft schon erlebt. Bald vergessen. Gelöscht. Doch dort im Rinnstein ein Fünfzig-Cent-Stück. Und schon ein Geschenk des Tages entdeckt.

Wenn ich mit dem Fahrrad an der Straßenampel warte, sitze ich fest wie auf einem Wartestuhl beim Arzt. Wann werde ich endlich aufgerufen? Ich warte. Langsam steigt mir der Kaffee von vorgestern in die Kehle. Mein Arzt sagt, ich soll mich nicht aufregen, das sei nicht gut für mein Herz. Es kann sein, dass ich bald für immer zwischen den Brettern liege. So bezähme ich den Tiger in mir. Stehe wie ein braver Bürger auf dem Fußweg und schaue gelangweilt in die städtische Steppe.

Wenn ich mit dem Fahrrad an der Straßenampel warte, will ich schnell weiter fahren. Die Freundin im Café schaut ungeduldig auf die Uhr. Eine unsichtbare Macht zieht mich zu ihr, die nur ein paar Straßen weiter am Tisch sitzt. Aber in mir tickt die Sehnsucht wie eine Bombe, kurz vor der Explosion. Die Zündschnur glimmt bereits.

Wenn ich mit dem Fahrrad an der Straßenampel warte – und einfach eine Grünphase auslasse. Stehenbleibe am Straßenrand. Das macht doch kein Mensch, höre ich meinen Verstand sagen. Jeder erkennt in mir den Sonderling. Die Leute liefen an mir vorüber und würden mich verwundert ansehen. Ist der noch normal, denken sie. Der gehört in eine Anstalt. Mich dem Fluss des Lebens entgegenstemmen. Den allgemeinen Trott hinterfragen. Ich lasse mich jedoch vom Strom mitziehen und fahre über die Straße wie alle anderen.

Wenn ich mit dem Fahrrad an die Straßenampel komme – und einfach sie ignoriere. Ich fahre hinüber. Bei Rot. Hinter mir die bösen Blicke der Wartenden kann ich nicht sehen. Auch einige Rentner sind dabei. Ich kann ihre Gedanken über mich nicht erahnen. Ignorieren sie mich, oder beneiden sie meinen Mut. Oder denken sie, der gehört eingesperrt. Ich lasse sie in ihrem Frieden stehen, dort am Straßenrand.

Wenn ich mit dem Fahrrad an die Straßenampel komme – und einfach sie ignoriere. Ich will genau so stolz Rad fahren, wie die Autofahrer in ihren  chromblitzenden Kisten und ihre Oberkörper im Rhythmus der Stones bewegen. Und denken, sie wären die Könige der Straße. Deshalb nutze ich die Lücke zwischen ihnen, zeige ihnen in Gedanken den Stinkefinger und radle auf die andere Seite.   

Wenn ich mit dem Fahrrad an die Straßenampel komme – und einfach sie ignoriere.  Ich fühle mich wie ein Dissident. Etwas Unerlaubtes tun. Was der brave Bürger nicht tut. Selbst wenn die Straße weit und breit leer ist. Es ist das Aufbegehren gegen die Normen des Alltags. Gegen das zähe Fließen des Unsinns an mir vorbei. In Dunkelheit sein, mitten am Tag. Tief im Herzen lege ich das Gewehr an. Ziele in die Mitte der Normalität. Und fahre frisch und frei in die Sonne. Komme auf der anderen Straßenseite an mit dem Stolz, jetzt doch etwas anders zu sein.

Frank Siegert

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