In der Kaufhalle sind sie so nett. Nicht nur die Kassiererin, nein, auch die Kunden. Das sind ja alles meine Nachbarn. Die kommen jeden Tag. Die grüßen mich und ich grüße zurück. Ich winke ihnen zu, wie ein Seemann auf Landgang, zwischen den Regalen. Rolling home.

Das Kirchenschiff ist gewaltig. Und schweigt. Ich bin nicht wichtig.
W a s  w i l l s t  d u , flüstert mir eine Stimme zu. Sie formt sich im Raum, hoch oben, unter der getäfelten Decke.

In der Kaufhalle ist Leben. Fröhliche Rollatorwelt. Vormittags kommen sie, sie bugsieren sich geschickt Richtung  Wursttheke, forsch: 150 bitte, von der da. Darf`s ein bisschen mehr sein? Sie sind so freundlich. Alle. Selbst der Kassierer, der das Geld nimmt. Der hat’s ja auch nicht leicht.

W a s  w i l  l s t  d u  d e n n, flüstert wieder die Stimme. Ich lebe vorbei. spreche ich auf meiner leeren Kirchenbank vor mich hin. An irgend etwas vorbei, verstehst du? Dieses Schweigen, das dann folgt. Vor dem Kirchenfenster geht etwas vorüber. Ein Schatten, vielleicht ein Vorschatten. Gibt es so etwas?

Ich bin ein Seemann, der durch die Regale schwankt. Ich summe vor mich hin. Ich segle über die Packungen, die bunte Werbung. Die können mir viel erzählen. Ha, ich habe schon eine Menge Regale gesehen. Vorn an der Kasse steht eine Stiege Rentnerbrause: 0,2er Fläschchen Sekt, gut auch zum Mittag, um den Kreislauf anzukurbeln.

Ich lege mich auf die Kirchenbank, schaue nach oben, an die getäfelte Decke. Wenn jetzt der Küster kommt, holt er einen Notarzt. Ich lebe nicht vorbei, ich gleite vorbei. Oder besser: ich gleite am Eigentlichen entlang, wie an einem Pergamentpapier. Da ist die Stimme wieder: S c  h r e i b  e i n e   G e s c h i c h t e, flüstert sie. Aber was soll ich denn schreiben? Das Transzendente schweigt. Wenn es wenigstens rascheln würde.

In der Kaufhalle drehe ich jetzt die zweite Runde. Jedes Ding in meinem Wagen ist eine Story. Ich hab einen Wagen voller Geschichten, Leute. Guckt mal, die Wurstmischer, die Lohnarbeiter, die Werbetexter, die Brummi-Fahrer. Wow. Lauter kleine Geschichten, vom schönen Kapitalismus.

O Gott, lass mich nicht mutlos werden. Also: woran lebe ich vorbei? Ich bemühe mein Gedächtnis. Das Kind in mir findet etwas. Es bricht durch eine Hecke: Mutti, Mutti, guck mal! Ich bin immer noch allein in der Kirche. Ich lege meine Hände auf die Ablage der Kirchenbank. Holz. Richtig altes Holz.

Ich glaub, ich bin besoffen, dritte Runde, da hinten kommen die Wasserflaschen in Sicht. Die gefallen mir am besten, die erzählen nämlich Geschichten über mich: Kalziumgehalt, Natriumgehalt, Flouride, Chloride, Bromide…dat ist für’s Gleichgewicht. Links die Basen, rechts die Säuren. Backbord und Steuerbord, das Schiff schwankt manchmal ganz schön.
Immanenz und Transzendenz, die Innen- und
Außenseite der Welt. Volkstümlich und gerne missverstanden: Diesseits und Jenseits. Ich wiege die Wortpaare auf der Zunge hin und her. Ich richte mich auf. Zum ersten Mal blicke ich mich um im Kirchenschiff. Da hängen zwei Christusse. Das ist ein Unding, es gibt keine zwei Christusse. Aber sie hängen beide da, jeder an seinem Kreuz. Der an der einen Wand hängt, hat den Mund halb geöffnet. Er trägt schwer an seiner Dornenkrone. Der leidet. Der Christus an der anderen Wand hat den Mund geschlossen, die Gesichtszüge sind entspannt. Der ist schon tot.

Vierte Runde. Ich hab wieder ein paar Nachbarn getroffen. Und einen Klassenkameraden. In meinem Kopf summt Nena: „Lass mich dein Pirat sein…“ So ein Freibeuter hat schon was. Ich könnte meinen vollen Wagen wieder auspacken. Und dabei gleich die Regale umsortieren. Ein bisschen Abwechslung in’s Sortiment bringen. Der Punkt ist nur: wer soll das verstehen.

I c h  w e i ß  e s, rufe ich der Stimme im Kirchenschiff zu. Der Schatten vor dem Fenster soll hereinbrechen. Das Pergamentpapier soll zerreißen. Die Transzendenz raschelt nicht. Sie flüstert auch nicht. Sie kommt mit einem Knall. Das Unsichtbare, das sichtbar wird, ist immer ein Störfaktor. Das ist die Geschichte. Der Punkt ist nur: wer soll sie je verstehen.
Mühlberg/ Elbe, 2./3. Mai 2012

Anregung durch: „Examination oder: Wie soll ich es sagen“ von Manuela Gerlach