Chalkidiki      30.05.02

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Lieber Christian, der Nordwind kommt durch die Bucht. Kühl ist er und begleitet die Stille. –

Ach, die Stille, wir kamen aus einer lärmenden Welt. Dort haben wir vieles nicht mehr getan.. Als Du jünger warst und fragtest nach dem Sinn des Seins, nach abenteuerlichen Wegen, als Du kämpfen wolltest, als du auf der Suche warst, da erschien die Stille Dir willkommen. Du flüchtetest in sie um nach Dir zu fragen. Sie half Dir, aber ihre Antworten waren immer etwas anders, nie genau aber immer irgendwie gut tuend.

Manchmal lenkte sie dich mit Wolkenspielen und Licht in andere Blickwinkel, dann wieder war es die Frage: “Wonach duftet es hier?“

Sie konnte aber auch mit leiser Stimme an etwas erinnern, weil die Sehnsucht gerade abhanden kam.-

Durch die Bucht kommen Nordwind und Stille, ein nettes Paar.-

Ich lausche. Seitab rauschen Wind und Meer. Über die Sonne wandern Wolken, Spatzen zwitschern und der Oleander beduftet die Morgenfrische.

Sandorn, diese nordische Duftimpression, diese Erinnerung aus anderer Tiefe sagt, es wird etwas geschehen.

Etwas kann uns überfallen, etwas wird uns in den Strom von Gedanken tauchen.

Die Stille wird uns befragen. Zeuge wirst Du sein, es ist ein Verhör.

Katzenjammer, flach gegen den Boden gedrückt schleicht eine Katze durch Gärten und singt.- Liebesgesänge, Seelenschmerzgesänge, Fernwehgesänge?

Lieder, das sind Lieder, die die Stille hinwirft. Anders sind die Worte.-

Ich mag sie nicht mehr, Worte, die Erklärungszwänge auslösen zwischen der Stille und mir.

Gut, denke ich, ich kann ihnen kurze Antworten formulieren.

Liebeskummer – spurlos verloschen. Seit Jahren lebe ich verheiratet. Dennoch lausch ich in die Stille, ob und wonach Liebe rief. Zuneigung, ja, stark und gut, alles andere, na ja…

Fernweh: Seemann wollte ich als Junge werden. Von Berlin nach Griechenland segeln, Inseleinsamkeiten auftun, Sonnenuntergänge, Blütenwelten und den Tanz der Elfen schauen. Mein Gott, Du weißt schon, allein war man und träumte. Jetzt aber?

Seelenschmerz-: Körpersprache, Kopfschmerzen, Halsschmerzen, Ohrenschmerzen, Herzbeschwerden… Beschwerden, manchmal habe ich Beschwerden entgegen zu nehmen.

Das Innere meutert. Oft werde ich beleidigt, inkompetent genannt, man antwortet nicht oder bezahlt mich schlecht. Da zerbrechen Erwartungen, Hoffnung flieht vor der Furcht.

Ich fürchte mich.-

Die Stille ist da. Kein Auto, keine Maschinen, kein Radio. Nur das Gurren der Tauben höre ich. Nicht die menschlichen Laute. Kinderstimmen, nichts, nur die Tauben.

Griechenland, ich bin in Griechenland. Plötzlich ist Zeit da. Plötzlich trifft die Stille mich. Plötzlich ist es ein bißchen wie früher. Was aber nun?

Wenn Du dem Inneren zu Nahe kommst laufe einfach fort.

Die Sonne ist von der Terrasse gegangen. Einzeln, einige gelbe Flecke nur an den äußeren Rändern. Es wird Zeit eine Kleine Wanderung zu machen.

Abgekühlt der schwarze Morgenkaffe, bitter.

Hügel hin gesplitterte Felsen, Trümmer, erdversunkene Kulturen, die Antike,  Winzigkeit.-

Vergangenheit, alles hat Vergangenheit. Da ist der Augenblick hier ist schon Vergangenheit. Du weißt einiges über mich, also hast Du mich wahrgenommen. Aber, versunken ist die Vergangenheit, herausragen Trümmer.

Leben zu rekonstruieren wird nicht gelingen. Entweder wirst Du fragen oder Dich gleichgültig stellen. Besser ich rede gerade so, wie es mir einfällt.

Schmaler werden die Wege, die Sonne steigt und es wird feucht warm.- Schlangenwetter.

Barfuß gehe ich in Sandalen. Das Gestrüpp ist dornig. Hier oder dort raschelt was, huscht weg. Weißgrau türmen die Felsen auf in Wolkenklüfte. Fürchtest Du die Schlangen?

Über Schlangen weiß ich wenig. Ihre Bisse sind lähmend, vielleicht Krampfverursachend.-

Krampfverursachend, das ist die Arbeit. Stell Dir einen Gemüsehändler vor. Er tütet Früchte ein, legt das Gemüse auf die Wage, kennt die Preise. Mehr muß er nicht wissen über pflanzliche Waren. Wenn meine Arbeit doch ähnlich wäre.

Ich berechne elektrische Apparate. Physikalisch unverfänglich, vorausgesetzt Du erkennst die Zusammenhänge. Ich bin Diener einer Software. Sie ist mein physikalisches Gewissen. Ist die Software krank, dann erkranke auch ich. Einem Menschen zu trauen ist schwer. Unberechenbar sind sie. Maschinen sind Egozentriker. Ich könnte diesen Vorteil in Bezug auf die Beherrschung der Maschinen nutzen.

Doch die Funktionsweise eines Rechenprogrammes liegt links, die physikalischen Zusammenhänge liegen rechts. Die Gesetze der Mechanik habe ich studiert. Zwischen den Dingen stehe ich. Es frißt mich auf. Innere Strukturen einer solchen Aufgabe durchschaue ich nicht. Aber die verheerenden Auswirkungen möglicher Fehler stehen mir vor Augen.

Eine teure Angelegenheit.

Vorsichtig setze ich die Füße ins Gestrüpp, vorsichtig kalkuliere ich. Hier wären Schlangen denkbar, dort lauern Führungskräfte.-

Sie machen Fehleranalysen, stellen tabellarisch dar, wie man den momentanen Leistungsstand zu bepunkten hat. Das mindert Gehaltskosten. Sie beurteilen die Verwendbarkeit eines Arbeitnehmers und bestimmen den Zeitpunkt seiner Austauschbarkeit. Effizient.-

Fremd sind die Apparate mir, die ich berechne. Jede Order ist eine Zeitbombe. Weiter werde ich machen, weiter wird es gehen.

Abhänge, unwegsamer wird der Ziegenpfad. Unten schäumt das Meer in die Klippen. Der Nordwind frischt auf. Fremdartig duftet die Stille. Mild und süß gibt sie sich preis. Hier endet dieser Weg, zerspringt in rinnsalartige Nebenarme. Er flieht den Felsen, er stürzt ins Dornengestrüpp.

Es raschelt, es surrt, es rauscht. Nordwind, doch die Stille herrscht.

Würdest Du umkehren?

Immer näher rückt die Stille ans Ohr. Der Nordwind hat sie fest im Arm.

Schwächer geht sein Atem jetzt. Sonne brennt.

Zwischen Gestern und heute liegt schmal die Vergangenheit.

Ein Wandertag, ein Nichtstutag, die Faulheit, das Entspannen.

Kurz mal ins Meer, Lippen ansalzen, einfetten die Haut, sonnenröten.

Sag mal, verändert uns ein einziger Tag?

Abends beobachtete ich Tische und Stühle, die reihten sich die Küste entlang, nahe dem leuchtenden Bogen aus Sand und dem wäßrigen Türkies.

Tausend Plätze hinter denen doppelt so viele Hoffnungen auflebten, wenn einzelne Gäste achtlos gingen, vorüber.

Hier herrschen leichter Wind und die Stille.

In andere Taschen fließt das große Geld.

Dennoch, Du spürst es sofort.

Kaum sitze ich, werden die Wirte nervös. Sie stolpern, hantieren, geben gelassen die Speisekarte, rufen, kommandieren in jenes Dunkelsein, das sich Küche nennt. Dort beginnen Teller zu klappern. Regsamkeiten brausen auf, dabei bestellte ich einen Espresso nur.-

Rasch geht es vorüber, manchmal aber eskaliert es auch.

Abends kamen einige Gäste in die Taverne. Mehr als zehn Tische wurden besetzt. Griechische Musik bespielte sie beruhigend.

Tiefschwarz stand ein Himmel an und nach feuchter Sommererde roch es. Künstlich wurde der Palmengarten beleuchtet.

Abendessen.- Erwartungen schaukelten sich auf. An zehn Tischen gleichzeitig. Hier sehen wir die Front der hungrigen, dort das Bataillon der Dienenden. Verstehst Du, ich wollte zu sehen wie Küchengehilfen, der Koch, der Kellner und der Chef das in Angriff nähmen.

Pärchen nahmen Platz. Zeitversetzt erhob sich der Chef. Er kam aus dem Dunkel einer Nische, aus der er so manchen Tag an einem kleinen Tisch wartete, tief in seinen Stuhl zurück gesunken, träge den Wandel der Stille abschätzend.

Jetzt stand er auf. Staffelläuferpose um die empfangenen Bestellungen, die er den Gästen abnahm, hastig an die im hinteren Teil dienenden weiter zu reichen. Folgerichtig, aber alles geschah zeitversetzt.

Erst wurde der Chef nervös. Die Nervosität übergab er dem Kellner, der reichte sie weiter bis sie an Töpfe schepperte. Kommandos wurden hitzig, Dämpfe stiegen auf.

Längst hatten mehr als die Hälfte der Gäste die Speisen im Magen, da erst erreiche die Hektik im Frontabschnitt der Dämmernden den Höhepunkt. Teller krachten, zu Boden fielen Rufe. Übersehen wurde das Geschirr auf den Gästetischen, denen die Gäste längst  leb wohl sagten. Als der Sturm vorüber war, kochte die Nervosität.

Am Morgen aber hatte die Stille alles wieder unter Kontrolle. Der Chef persönlich schätzte den trägen Wandel der Stille ab.-

Was aber hat das alles zu tun mit uns?

Komisch, eine solche Szene habe ich zum erstem mal mit den Augen Gottes beobachtet. Verstehst Du, was da unten geschah, geschah.-

Ich war Gast, die würzigen Fleischstücken waren verzehrt und das süße Dessert wärmte den Magen. Der Verdauungsschnaps löst Verspannungen. Ich war Gott und richtete die Getriebenen.

Da verstand ich das Phänomen des Zeitversatzes.

Ich lebe im zweiten Teil meines Lebens und schrecke auf wie der Chef.

Diese Stille, nein, den Kopf verdreht sie einem. Wie fremd Du aussiehst, wenn Du dich im Spiegel plötzlich antriffst. Müßiggänger. Und was nun?

                                                           G.Jaeger